Lesebericht: Mitternacht mit Herta Müller

Lesebericht: Mitternacht mit Herta Müller
Hand aufs Herz: Haben Sie schon mal ein Buch von Herta Müller gelesen? So viel Zeit braucht es dafür nicht. Ein Lesebericht über "Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt".
09.10.2009
Von Henrik Schmitz

17.18 Uhr, eine Buchhandlung in der Berger Straße in Franfurt: Ein Buch von Herta Müller zu kaufen, ist nicht leicht. "Halten Sie es gut fest, das gibt es nicht mehr", sagt der Buchhändler, der direkt neben der Kasse fünf Bücher der Literaturnobelpreisträgerin platziert hat. Herta Müllers neuestes Werk, "Atemschaukel", gehört nicht dazu. "Von der Preisvergabe sind alle überrascht worden, auch die Verlage", sagt der Buchhändler. Da die Auswahl ohnehin begrenzt ist, entscheide ich mich für die Erzählung "Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt", erschienen 1986. Es hat den schönsten letzten Satz: ",Die gehen zur Kommunion und haben nicht gebeichtet.’". Und zugegeben: Mit 111 Seiten scheint das Buch dazu geeignet zu sein, in einer Nacht gelesen zu werden. "Aber Herta Müller schreibt sehr dicht. Man muss viel nachdenken", ergänzt noch die Kollegin des Buchhändlers.

22.19 Uhr, schwarzes Sofa, lila Kuscheldecke, eine Kanne Tee: Es geht doch nichts über gute Konditionierung! Seit Abiturzeiten begleite ich konzentrierte Tätigkeiten mit schwarzem Tee mit viel Milch und einer Tüte Lakritz. Die Lektüre kann beginnen, zunächst mit dem Klappentext über die Autorin. Herta Müller wurde 1953 in Rumänien geboren, 1987 konnte sie nach Repressionen und Publikationsverbot nach Berlin ausreisen, 1998 erhielt sie den "Impac Dublin Literary Award", den weltweit höchstdotierten Literaturpreis für ein einzelnes Werk, lerne ich dort. Nun, den höchstdotierten Preis für das Gesamtwerk dürfte sie nun auch haben. Das Auge schweift zwei Seiten weiter, die Erzählung beginnt: Um das Kriegerdenkmal stehn Rosen. Sie sind ein Gestrüpp. So verwachsen, dass sie das Gras ersticken. …

22.51 Uhr, die erste Tasse Tee ist geleert, die Tüte Lakritz leider ebenfalls: Ich bin auf Seite 25 angelangt. Held der Erzählung ist ein gewisser Herr Windisch, der keinen Vornamen zu haben scheint und ein tristes Leben führt. Glücklich wirkt er jedenfalls nicht und auch die Sprache Herta Müllers klingt eher trist. Sie benutzt kurze Sätze, viele haben nur vier Worte: "Die Türklinke ist naß", "Der Mond ist groß" oder "Der Salat war hochgeschossen." Mein Held, Windisch, will auswandern, erfahre ich. Er arbeitet in einer Mühle, wo er zu Beginn der Erzählung ein Gespräch mit dem Nachtwächter führt. Von Frauen sind die beiden ganz offenbar enttäuscht. Der Nachtwächter von seiner, weil sie tot ist. Windisch, weil "Frauen betrügen". Windischs Liebensleben läuft nicht so dolle, vielleicht wird er deshalb zum Spanner und beobachtet, wie "der Tischler" mit seiner Frau schläft. Herta Müller hat dabei eine interessante Art, einen Liebesakt zu beschreiben: "Die Frau stellt die Schenkel und biegt die Knie. Ihr Bauch ist aus Teig. Ihre Beine stehen wie ein weißer Fensterrahmen auf dem Betttuch." Über Windisch heißt es später: "Windisch spürt an seinem Schenkel sein steifes, störrisches Glied."

Weiter erfahre ich auf den ersten Seiten, dass Windisch eine Tochter hat, die Amalie heißt, dass es einen Kürschner gibt, der einen Sohn namens Rudi hat, der in den Bergen wohnt, nicht weit von einem Sanatorium, und dass Windischs Frau nicht mehr mit ihrem Mann schlafen möchte ("Der Arzt hat es verboten’, sagt sie, ,ich lass mir nicht die Harnblase schinden, weil es dir so passt.’"), aber ein Liebesleben mit sich selbst führt ("Er schaute unter seinem Arm hindurch auf die Schenkel seiner Frau. Er sah, wie sie den schleimigen Finger aus dem Haar zog."). Kurz gesagt: Windisch erlebt so etwas wie die Hölle auf Erden. Also weiter…

23:40 Uhr, die zweite Tasse Tee ist geleert, es gibt kein Lakritz mehr: Ich bin bei Seite 50. Die Tristesse setzt sich fort, einiges wird deutlicher, manches bleibt unklar. Das Stück spielt in Rumänien nach dem Krieg. Ich bewundere wie es Herta Müller gelingt, in nur wenigen Worten zu beschreiben, wie Windisch  und seine Frau (Kathrina) nach dem Zweiten Weltkreig zueinander gefunden haben. "Katharina hatte wie Windisch den Tod gesehen. Katharina hatte wie Windisch ihr Leben mitgebracht. Windisch hängte sein Leben rasch an sie. … Sie weinte. Windisch wusste, dass sie um Josef weinte. Windisch schloss das Tor. Er weinte. Katharina wusste, dass er um Barbara weinte."

Zwei Menschen heiraten also, nachdem sie ihre jeweiligen Partner im Krieg verloren haben. "Das Dorf war Wund von den vielen Toten und Vermissten gewesen", schreibt Herta Müller. Zwei dieser Verwundeten heiraten nun und hassen sich zugleich: "Windisch schlägt sie ins Gesicht. Sie schweigt. Sie senkt den Kopf. Weinend stellt sie die Teekanne auf den Tisch."

Nicht nur Windisch und seine Frau wollen ausreisen, auch andere im Dorf, wie der Kürschner. Er bekommt Besuch von Männern "in einem weißen Auto", dem Sicherheitsdienst. Der Kürschner "schenkt" ihnen Felle. Die Erzählung ist beklemmend. Ein verwundetes Dorf mit verwundeten Menschen, die erpresst werden, um ausreisen zu dürfen. Windischs Tochter Amalie hat offenbar eine Affäre mit Rudi, dem Sohn des Kürschners, aber einiges bleibt undeutlich. Ich gestehe, ich verstehe nicht alle Bilder, die Müller verwendet, ich kann ihren Andeutungen nicht folgen. Aber es sind tatsächlich schöne Formulierungen und eine prägnante Sprache, die sie findet. "Er schrieb den Brief lateinisch. Der Pfarrer las den Brief von der Kanzel herunter. Wegen dem Lateinischen schien die Kanzel sehr hoch." Deutet Müller hier eine Entfremdung der Kirche von een einfachen Gläubigen an? Besonders gut gefällt mir eine Stelle, in der es um eine Kuckuckuhr im Haus der Kürschners geht: "Windisch hört den Kuckuck schreien. Er riecht die ausgestopften Vögel durch die Zimmerdecke. Der Kuckuck ist der einzig lebende Vogel im Haus. Er zerreißt mit seinem Schrei die Zeit."

0.31 Uhr, der Tee ist kalt, eine letzte Tasse ist noch da: Ich bin auf Seite 75 angekommen. Die Erzählung ist definitiv nichts für Menschen, die gerade eine schlechte Phase haben. Eher etwas für jemanden mit sonnigem Gemüt, den ein kleiner Dämpfer nicht direkt aus der Bahn wirft. Es gibt viel Abschied. Die Mutter des Tischlers stirbt, Familien wandern aus oder sind es schon – wie der Kürschner – Amalie hat einen Freund (Dietmar), der zum Militär muss und den sie nicht wiedersehen wird. Das Dorf ist nicht nur verwundet, es ist auch verdorben. Um auswandern zu können, brauchen die Familien verschiedene Unterlagen. Und die gibt es nur gegen Gegenleistung: "Der Pfarrer hat in der Sakristei ein Eisenbett stehen. In diesem Bett sucht er mit den Frauen die Taufscheine. Der Milizmann verliert und verlegt bei manchen Familien siebenmal die Gesuche und die Stempelmarken. Er sucht sie mit den Frauen, die auswandern wollen, im Lagerraum der Post, auf der Matratze."

Windisch versucht, den Milizmann mit Mehl zu bestechen, aber seine Frau erklärt ihm, dass dies sinnlos sei. Der Milizmann bestellt Amalie ein. "Jetzts geht’s nicht um die Schande, jetzt geht’s um den Pass", sagt Windischs Frau. Kurz vorher hatte sie Besuch vom Sicherheitsdienst, der mehrere Hühner und einen Großteil der Ente beschlagnahmt hat. Da Herta Müller selbst aus Rumänien ausgewandert ist und aus einer bäuerlichen Familie, stammt mache ich mir Gedanken, wie autobiografisch diese Erzählung ist. Möglichst wenig, hoffe ich. Selbst ein Literaturnobelpreis könnte dieses Schicksal nicht aufwiegen.

Traurig schön ist eine kurze Episode, die schon im ersten Teil des Buches vorkommt und wieder aufgegriffen wurde. Windisch will in der Kapelle des Heiligen Antonius (vermutlich Antonius der Große) beten, aber die Tür ist verschlossen: "Ich hab mir gedacht, das ist ein schlechtes Zeichen. Der heilige Antonius steht gleich hinter der Tür. Sein dickes Buch ist braun. Es ist wie ein Pass." Schwer symbolisch ist sicherlich eine Szene, in der es um einen blinden Hahn geht, der Windisch im Traum erscheint. Leider bin ich kein guter Traumdeuter.

1.09 Uhr, kein Tee, kein Lakritz, Seite 100: Herta Müller findet wunderbare Formulierungen. Den Tod Barbaras, Windischs großer Liebe, beschreibt sie mit den Worten "In Russland hat der Schnee, als er zum zweite Mal geschmolzen ist, sie mitgenommen." An einer anderen Stelle beschreibt Müller, wie sich Amalie ein Deo mit dem Namen "Irischer Frühling" unter die Achseln sprüht. Als Amalie das Haus verlässt, beschreibt Müller dies so: "Die irische Frühling fliegt in den Hof." Aber es sind doch traurige Episoden, die die Autorin beschreibt. Amalie geht zum Milizmann, um für den Pass zu sorgen. Sie kommt mit einem "Saugfleck" am Hals zurück. Dietmar wird erschossen. Bei der Beerdigung läst die "Vorbeterin" ausrichten, auch der Pfarrer wolle Amalie sehen. Das ergreifendste Kapitel bislang trägt den Titel "Die Grassuppe". Es erzählt, wie Windischs Frau Katharina den Krieg überlebt hat. "Ihr Magen war ein Igel", heißt es darin. Um zu überleben, lässt Katharina sich mit verschiedenen Männern ein, die ihr zu Essen geben. "Der Igel zog für ein paar Tage seine Stacheln ein", beschreibt Müller die Situationen, in denen Katharina wieder etwas zu Essen ergattert hat. Besser kann man dieses Gefühl von Hunger wohl nicht beschreiben. Noch elf Seiten…

1.30 Uhr, ein Glas Milch: Ausgelesen. Windisch verlässt mit seiner Frau das Dorf und kann nach Deutschland ausreisen. Ein letztes Mal geht er in die Kirche. Der letzte Satz "Die gehen zur Kommunion und haben nicht gebeichtet" bezieht sich auf ihn und seine Frau, eine Dorfbewohnerin spricht ihn.


Es ist kein fröhlicher Abschied. Windisch muss Abschied nehmen von seinem Freund dem Nachtwächter und er weiß, dass er Heimweh haben wird. Schrecklich und kunstvoll zugleich ist im letzten Teil des Buches eine Stelle, in der sich Amalie daran erinnert, wie sie mit dem Milizmann und dem Pfarrer schlafen muss. Müller verknüpft diese beiden Szenen zu einer, mit jedem Satz wechselt sie von dem einen Akt zum anderen: "Die Hände des Milizmanns drücken Amalies Brüste. ,Du hast schöne Äpfel’, sagt der Pfarrer."

Der Titel des Buches "Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt" ist ein rumänisches Sprichwort. Es will ausdrücken, dass der Mensch sich wie ein Fasan unbeholfen in der Welt bewegt. In der Erzählung von Herta Müller sind die Menschen allerdings nicht unbeholfen, sie sind eher hilflos und vor allem bitter. Herta Müller hat eine ungemein bittere Erzählung geschrieben, kunstvoll komponiert und mit kraftvoller Sprache. Lesenswert!

Nachtrag: Vor der Mitternacht mit Helga Müller gab es einen Abend mit Paul Auster. Dessen Buch "Stadt aus Glas" wird derzeit als Theaterstück im Schauspiel Frankfurt aufgeführt. Eine großartige Inszenierung eines großartigen Stoffs von einem großartigen Autor, der auch jeden Preis verdient hätte.

 

Literaturtipps gibt evangelisch.de auch im Blog "Dünne Bücher".