"China war lange Zeit führend in der Weltliteratur"

"China war lange Zeit führend in der Weltliteratur"
Das offizielle China verbietet kritischen Autoren die Ausreise zur Frankfurter Buchmesse. Der Sinologe Martin Woesler verteidigt die Auswahl Chinas als Gastland im Interview dennoch. Er erläutert Missverständnisse zwischen Deutschen und Chinesen und verrät, warum chinesische Literatur in Deutschland zwar wenig erfolgreich ist, die Lektüre mancher Bücher aber sehr lohnen würde.
01.10.2009
Von Henrik Schmitz

Evangelisch.de: Die Frankfurter Buchmesse mit China als Gastland hat steht bereits vor den ersten Problemen. China will verhindern, dass kritische Autoren in Frankfurt zu Wort kommen und setzt damit demokratische Spielregeln außer Kraft. Kann es sein, dass China noch nicht reif ist, die Rolle als Gastland zu übernehmen?

Martin Woesler: Ich denke, dass China genauso reif ist, Ehrengast der Buchmesse zu sein, wie andere Länder, die Ehrengast der Buchmesse waren, wie z.B. die Türkei. Die Buchmesse bietet ein Forum, auf dem alle Stimmen zu Wort kommen sollen und man miteinander spricht. Das gibt es in China so nicht, und so kann China an dieser Herausforderung wachsen. Dass sich die chinesische Regierung dieser Herausforderung stellt und sie annimmt, spricht für sie. Die ersten Schritte auf der Buchmesse waren natürlich noch nicht so weltmännisch, wenn man etwa an die vielen Fragen der Dissidentin Dai Qing denkt, die auf dem Symposium am 12. September 2009 scheinbar überhört wurden, zumindest unbeantwortet blieben. Alle sind sich einig, dass China früher oder später auch Meinungsfreiheit gewähren muss. Einen ersten Schritt in diese Zukunft können wir jetzt gehen, auf einem eng begrenzten Feld, der Literatur.

Evangelisch.de: Welche Rolle nimmt die chinesische Literatur in der Weltliteratur ein?

Woesler: China war lange Zeit führend in der Weltliteratur, so etwa mit seinen Gedichten in der Tang- und Song-Zeit. Bis ins 18./19. Jahrhundert entstanden auch Romane von Weltrang, wie "Der Traum der Roten Kammer". Im 20. Jahrhundert hat die Literatur in China noch etwas länger als die in der Weimarer Republik bzw. dem Deutschen Reich der ideologischen Vereinnahmung durch die Politik widerstanden und so war die chinesische Literatur der 1930er Jahre in mancher Hinsicht moderner als die in Deutschland. Ich möchte hier nur Lu Xun mit "Tagebuch eines Verrückten" nennen, der genau wie Kafka ein isoliertes fiktionales Element in einen grotesk-realistischen Alltag gestellt hat. Auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gab es wichtige Autoren, wie die Shanghaier Frauenschriftstellerin Zhang Ailing und Weltschriftsteller wie Qian Zhongshu. Nach einem Nullpunkt, der in Deutschland 1949 und in China erst 1976 lag, ist die chinesische Literatur heute eine junge, experimentelle, die beginnt, über die reine Konsumliteratur hinauszuwachsen. Die chinesische Nationalliteratur ist sicherlich eine in Deutschland wenig beachtete - zumindest weniger als in Frankreich und Amerika, aber sie ist eine, die mehr zu bieten hat als die Erwartungen nach Exotik des deutschen Lesepublikums zu befriedigen.

Mentalität des Ausgleichs

 

Evangelisch.de: Welche Rolle spielen chinesische Autorn in China? Unterstützen Sie das Regime ideologisch oder verstehen sie sich eher oppositionell und weisen auf Missstände hin?
 

Woesler: Der chinesische Autor erfüllt eine anerkannte gesellschaftliche Funktion, und zwar die, die früher der Gelehrten-Beamte erfüllte. Er ist Mahner der Zeit und wagt bei entsprechender Bekanntheit sogar die Herrscherkritik. Allerdings ist die chinesische Mentalität stark auf Ausgleich bedacht, so dass uns chinesische Autoren, die ihre Werke selbst zensieren, um überhaupt veröffentlichen zu können, als feige erscheinen. Tatsächlich gehört diese Suche nach dem Kompromiss und dem Miteinander-Leben von Unterschieden zum chinesischen Wesen.

Evangelisch.de: Welche Missverständnisse zwischen Deutschen und Chinesen gibt es sonst noch, die das Verhältnis belasten?

Woesler: Natürlich erwartet das deutsche Publikum, dass China, wenn es sich wirtschaftlich so weit öffnet, auch demokratische und geistige Freiheiten gewähren muss. Dass dies aber kein Automatismus ist, zeigt das chinesische Modell der Gesellschaftsentwicklung seit 30 Jahren. Natürlich wird China auch geistige Freiheiten und Partizipation der Bürger gewähren, aber dies ist ein Prozess, den man nicht aufzwingen, sondern nur sehr langsam verinnerlichen und erlernen kann. Dass diese Lernprozess schmerzhaft ist, hat die chinesische Regierung insbesondere nach der Niederschlagung der Demokratiebewegung 1989 erfahren. Als Deutsche dürfen wir auch nicht immer von "dem China" sprechen. Tatsächlich ist das China mit seiner Publikationsvielfalt, seinen über 180.000 Neuerscheinungen jährlich und seiner Privatisierung des ehemals staatlichen Verlagswesens ein Buntes, Vielfältiges, wenn auch nicht ganz Freies.

Evangelisch.de.: Präsentiert sich dem Besucher der Buchmesse denn wirklich dieses vielfältige China?

Woesler: Das China, das uns auf der Buchmesse vorgestellt wird, ist natürlich nicht repräsentativ, sondern die Inszenierung einer Sieben-Millionen-Euro teuren Medienkampagne, in der sich ein Einparteien-Regime mit handverlesenen Autoren selbst feiert. Auf chinesischer Seite gibt es ebenfalls falsche Erwartungen oder Missverständnisse: Hier wird die deutsche "vierte Macht im Staate", die Medien, als unfair und als persönlich verletzend wahrgenommen, da man eben keine freie Presse kennt, sondern nur die staatlich gelenkte zuhause. Was die chinesischen Offiziellen auf der Buchmesse von den deutschen Lesern lernen können, ist eine gewisse Gelassenheit gegenüber kritischen Medien. China hat die Chance, zu lernen, einfach über den Dingen zu stehen und auch neue Freiheiten auch einmal großzügig zuzulassen, ohne gleich zu fürchten, dass die Legitimation der Einparteien-Herrschaft in Frage gestellt wird.

Evangelisch.de.: Welche Autoren spielen in China eine besondere Rolle, sind hier aber kaum bekannt?

Woesler: Wichtig sind in China zwei hierzulande weitgehend unbekannte Autorengruppen: Zum einen die sogenannten Reportageliteraten, mutige Autoren, die ähnlich wie die deutschen Medien-Formate des kritischen Journalismus "Monitor" et cetera Korruption, Umweltskandale und himmelschreiende Misstände aufdecken.  Leider werden ihre Bücher, wenn sie wider Erwarten die Zensur passiert haben sollten, häufig später wieder eingestampft, wenn ihre systemlabilisierende Wirkung einsetzt. Zum anderen sind es junge Autoren, die sich im Internet unter Tausenden von Kollegen durchgesetzt haben, indem ihre Geschichten die meisten Klicks bekamen. Und nur sie erhalten den begehrten Verlagsvertrag, nur sie durchstehen die Casting-Shows und werden wie Popstars gefeiert. Sie sind Kult und ihre Geschichten sind wirklich interessant.

Evangelisch.de: Wer gehört zu dieser Auotrengruppe?

Woesler: Han Han etwa, der mit "Tage des Ruhms" ein modernes Märchen einer Jugendclique erzählt, die auszieht, ihre Ideale auf der Schwelle zum Erwachsenenwerden zu leben. In "Sein Land" erzählt Han Han von Menschen, deren blinder Patriotismus desillusioniert wird. Sein Schreibstil ist sarkastisch, sein Humor schwarz, die Jugend liegt ihm zu Füßen. Die Schwelle des begründeten Ruhms überschritten hat das Jugendidol Guo Jingming, dessen Bücher, die sinnvollerweise gleich als Buchreihe "Bestseller" auf den Markt kommen, zu hunderttausenden weggekauft werden, sobald er auf den Buchdeckel, der meist noch nicht einmal mehr seine eigenen Geschichten fasst, seinen Namenszug hinterlässt.

Evangelisch.de: Woran liegt es, dass chinesische Autoren in Deutschland kaum größere Erfolge verzeichnen?

Woesler: Grundsätzlich ist die chinesische Kultur für den deutschen Durchschnittsbürger allenfalls als Exotik- oder Alternativ-Konzept interessant. Die amerikanische Kultur übt auf die Deutschen eine größere Attraktivität aus, auch die Kulturen der europäischen Nachbarländer im Norden, Westen und Süden sind aufgrund der Reisemöglichkeiten positiv konnotiert. Die chinesische Kultur ist einfach sehr distant, weil sie sich lange Zeit weitgehend unabhängig bzw. isoliert von der Weltgemeinschaft in eine andere Richtung entwickelt hat.

Experimentierfreudige Nationalliteratur

 

Evangelisch.de: Was hätten chinesische Autoren dem deutschen Leser zu bieten?
 

Woesler: Derzeit nichts, an dem man sich orientieren könnte, muss man nüchtern konstatieren. Dennoch ist es eine junge und experimentierfreudige Nationalliteratur, deren stärkster Unterschied zur deutschen Literatur ist, dass sie ganzheitliche Antwortkonzepte bietet, die allerdings, und hier muss der deutsche Leser regelmäßig schlucken, Widersprüche nicht auflöst, sondern sie nebeneinander stehen lässt. Dennoch muss man einfach Mian Mians "Panda Sex" gelesen haben, wenn man wissen will, wie man sich auf der anderen Seite der Erdkugel fühlt.

Evangelisch.de: Verstellt nicht vielleicht gerade die Aufregung um China als Gastland den wichtigen Blick auf die großartige Kultur aus diesem Land und wäre es nicht vielleicht schon deshalb klüger gewesen, China zum Gastland zu machen?

Woesler: Ob die chinesische Kultur großartig ist, vermag ich nicht zu beantworten. Sie bietet auf jeden Fall einem Viertel der Menschheit eine Identifikationsmöglichkeit, die nicht ohne Stolz selbst von einem Dorfbewohner mit einfacher Schulbildung in jedem einzelnen chinesischen Schriftzeichen ehrfürchtig zitiert wird. Es gibt keinen Grund, aufgeregt über China zu sein. Der moderne Mensch von heute ist längst nicht mehr Produkt seiner Kultur, sondern spielt im Laufe seines Lebens mit mehreren Kulturen, sei es durch Auslandsaufenthalte, Vorlieben für bestimmte nationale Küchen, Filme, Musik oder Freunde. Das Zusammenbringen von Kulturen macht die Menschen mündiger und toleranter. Es ist ein Geschenk, das unsere Neugierde auf das Fremde befriedigt und so sollten wir die Buchmesse auch sehen, als ein Geschenk, das Menschen einander näher bringt.


Martin Woesler, geboren 1969, ist Experte für chinesische Literatur. Er ist Sinologe und Übersetzer