Patientenverfügung: Autonomie oder Fürsorge?

Patientenverfügung: Autonomie oder Fürsorge?
In diesem Monat ist das neue Gesetz zur Patientenverfügung in Kraft getreten, das diesen Dokumenten Rechtsgültigkeit verschafft. Die Diskussion ist allerdings noch lange nicht beendet: Wann gelten sie, brauche ich eine, will ich überhaupt eine?
25.09.2009
Von Petra Thorbrietz

Wer nicht abhängig von den Entscheidungen anderer sein will, sollte seinen Willen für das Lebensende schriftlich festlegen, meinen die Politiker, die mehrheitlich im Parlament für das neue Gesetz zur Patientenverfügung gestimmt haben. Damit, so die Argumentation, würden die Betroffenen ihren Angehörigen wie auch den Ärzten viel Entscheidungsnot ersparen.

Riskante Grenzziehungen

Das klingt logisch, doch so einfach ist es leider nicht. In vielen Patientenverfügungen, an die neun Millionen sind es Schätzungen nach in Deutschland, stehen Sätze wie "Im Falle meiner anhaltenden Bewusstlosigkeit verfüge ich ...", gefolgt von dem Wunsch, Beatmung und künstliche Ernährung nach dem Zeitpunkt X abzustellen. Wie riskant solche Grenzziehungen sind, zeigt das Beispiel der Sozialpolitikerin und Ethikexpertin Margot von Renesse. Sie hat das auch von der Evangelischen Kirche kritisierte Dilemma von Autonomie und Fürsorge in der eigenen Familie erlebt. Ihr Schwager hatte schriftlich angeordnet, nach sechs Wochen Koma alle lebenserhaltenden Therapien einzustellen. Der Fall trat ein. Seine Ehefrau weigerte sich jedoch, als Bevollmächtigte die Verfügung im Krankenhaus durchzusetzen. Drei Wochen nach seiner selbst gewählten "Deadline" wachte ihr Mann wieder auf. Renesse: "Heute kann er wieder Auto fahren."

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Eine Patientenverfügung kann zwangsläufig nur das festlegen, was man aktuell glaubt zu wollen. Das ist eine philosophische Stilübung, denn wir können unseren Willen nicht wirklich prolongieren. Außerdem hängen wir, das zeigen viele Studien, umso mehr am Leben, je gefährdeter es ist. Ärzte der Deutschen Klinik für Diagnostik in Wiesbaden haben zum Beispiel 2003 die Einstellungen von Tumorpatienten und Gesunden verglichen. Die Älteren und Kranken, zeigt die Studie, wünschen sich im Krisenfall deutlich häufiger den Einsatz von lebensverlängernder Dialyse, Chemotherapie und Antibiotika. Müssen wir unseren Patientenwillen jedes Mal ändern, wenn uns Zweifel überkommen? Und wem vertrauen wir mehr – unserem nüchternen Verstand oder dem biologischen Instinkt, uns aufzubäumen gegen den Tod?

"Im Zweifel für das Leben" - aber Zweifel bleiben

Christof Müller-Busch, Schmerzmediziner in Berlin und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin, bekam eine Patientin auf seine Station, die vermögend war und einen besonders detaillierten Patientenwillen formuliert und nach mehrfacher bezeugter Beratung durch ihren Hausarzt sogar notariell beglaubigt hatte. Wenige Wochen nach der Abfassung, ein Omen für Abergläubische, wurde die Frau bei einem Verkehrsunfall schwer verletzt. Als sie in die Klinik kam, lag sie im Koma und war bis zum Hals völlig gelähmt. Die Patientenverfügung untersagte die Fortsetzung lebenserhaltender Maßnahmen, doch bevor sie greifen konnte, erwachte die Patientin aus dem Koma.

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Das Dokument war damit ungültig, da die Frau kommunizieren konnte – auch wenn dies nur per Augenkontakt möglich war, und auch wenn die Experten unterschiedlicher Ansicht darüber waren, ob sie wirklich bei klarem Verstand und entscheidungsfähig war. Ihre Reaktionen waren nicht immer eindeutig. Trotzdem wurde sie am Leben gehalten, künstlich ernährt wegen ihrer Schluckstörungen, denn sie wollte leben - so glaubte der Sohn ihre Blicke zu deuten. Selbst Müller-Busch, "im Zweifel für das Leben", zweifelte daran, aber konnte er es wissen? Alle paar Wochen wurde die Patientin mit einem Krankenwagen zu einem Besuch nach Hause gefahren, um als Höhepunkt des Tages ein wenig Eiscreme auf ihrer Zunge zergehen zu lassen. Und es schien sie glücklich zu machen. "Aber", fragt Müller-Busch heute: "Haben wir im Sinne der Patientin gehandelt?" Weil die Realität all unsere Vorstellungskraft übertrifft, zögern auch insbesondere Ärzte und Pflegende, sich im vorhinein für oder gegen eine Behandlungsoption zu entscheiden.

"Ohne Dialog keine guten Entscheidungen"

Bei einer Anhörung des Nationalen Ethikrates zur Patientenautonomie hatte Müller-Busch schon vor Jahren für Verwirrung gesorgt. Er habe zwar eine Verfügung, erklärte der Schmerzexperte, in der stehe, dass er nach zwei Monaten anhaltender Bewusstlosigkeit nicht mehr künstlich ernährt werden wolle. Er sei sich jedoch nicht sicher, was ein solches Koma dann für ihn bedeute, schränkte er ein, und welche Bedeutung es in einer solchen Situation für seine Angehörigen bekomme. Deshalb solle seine Frau entscheiden. Da er seinen Willen dann nicht mehr äußern und sich jetzt nur annähernd vorstellen könne, käme es letztlich auf sie an. Sein Schicksal liege in ihren Händen. "Es ist doch ganz gleichgültig, was Ihre Frau dazu sagt", hatte sich der Jurist Spiro Simitis als Vorsitzender des Ethikrats erregt: "Wenn ich etwas gesagt habe, möchte ich, dass es respektiert wird!" Hat er nie in seinem Leben eine Entscheidung bereut?

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Reden, reden, reden – eine Patientenverfügung, davon ist der Münchner Palliativmediziner Gian Domenico Borasio überzeugt, taugt nur dann etwas, wenn sie die Kommunikation zwischen den Beteiligten fördert: "Ohne Dialog gibt es keine guten Entscheidungen." Diesen Prozess kann das Stück Papier niemandem abnehmen, den Ärzten nicht, den Angehörigen nicht, dem Bevollmächtigten oder Betreuer nicht. Denn der Kranke hat auf beides Anspruch: auf den Respekt vor seinen Wünschen wie auf die Fürsorge, sorgsam zu überprüfen, ob sein Wille in dieser Situation überhaupt Gültigkeit hat. Einfache Handlungsanweisungen wie "nach vier Wochen" sind wenig hilfreich – Borasio empfiehlt deshalb, eine Patientenverfügung auf jeden Fall genauestens mit einem Arzt zu besprechen. Leider diskutieren die Ärzte bereits, bis zu 250 Euro dafür zu nehmen, was nicht nur sehr viel Geld ist, sondern auch den Charakter eines solchen Gesprächs von einer persönlichen Beratung zu einer standardisierten Dienstleistung verkehrt.

"Ich will mit diesen Unwägbarkeiten leben"

Wollen wir die ultimative Kontrolle über unseren Tod haben? Klaus Dörner, Psychiater und prominenter Medizinkritiker, will keine Patientenversfügung unterzeichnen. In jedem Leben gebe es Bereiche, argumentiert er, in denen der Einzelne nicht selbstbestimmt, sondern fremdbestimmt sein müsse. Und er sei sich eben nicht sicher, ob er im Krisenfall reanimiert werden wolle oder nicht: "Ich weiß es heute nicht, ich kann es nicht wissen! Ich will es auch nicht wissen. Ich will mit diesen Unwägbarkeiten leben. Ich will,
dass auch diese Unwägbarkeiten bis zum Ende meines Lebens mein Leben bestimmen, auch die Unwägbarkeiten, in denen mir völlig fremde Menschen per Zufall nach einem Verkehrsunfall als Ärzte oder Krankenschwestern nach ihrem Gutdünken aus der Situation entscheiden!"

Man kann beim Verfassen einer Patientenverfügung genauso irren, wie Ärzte, Pfleger oder Verwandte Fehler machen können, wenn es keine Patientenverfügung gibt.