Rupelrath: Ein Jugendbibelkreis war die Keimzelle

Foto: Benjamin Schruff
Alexander Rauen, Hans Wilhelm Ermen, Benjamin Rasemann, Carolin Lampe und Matthias Clever (von links).
Rupelrath: Ein Jugendbibelkreis war die Keimzelle
Zu wenig Geld, zu wenig Kirchgänger, düstere Aussichten für die evangelische Kirche? Von wegen! In der Serie "Jetzt erst recht! Gute Gemeinde-Ideen" zeigen wir, wie viel Leben in unseren evangelischen Gemeinden ist. Zum Beispiel in der St. Reinoldi Rupelrath in Solingen: Dort hat man in den 70er Jahren damit begonnen, Jugendliche intensiv in die Gemeindearbeit einzubeziehen. Mittlerweile gestalten die jungen Erwachsenen einen eigenen Gottesdienst.
09.05.2014
Benjamin Schruff

Die beiden Frauen stehen neben dem Altar und lächeln verlegen, während der Pfarrer sie per Mikrofon in der Gemeinde willkommen heißt. Er überreicht ihnen zwei Bücher als Geschenk – "verschiedene, damit Ihr tauschen könnt, wenn Ihr sie ausgelesen habt". Die Gemeinde applaudiert und der Gitarrist und der Keyboarder intonieren ein Lied, in das die rund 170 anwesenden Senioren, Erwachsenen, Jugendlichen und Kinder voller Inbrunst mit einstimmen: "Komm und lobe den Herrn. Meine Seele sing, sing wie niemals zuvor."

Nach dem "FreiRaum"-Gottesdienst wird in der Christuskirche ein "Mitbring-Buffet" aufgetischt.

Bei der Begrüßung der beiden hat Pfarrer Matthias Clever es taktvoll umschrieben, aber nach dem Gottesdienst erklärt er, dass die Frauen von der katholischen in die evangelische Kirche gewechselt sind, nur um der Gemeinde St. Reinoldi Rupelrath in Solingen beitreten zu können: "Das ist natürlich schon etwas besonderes – aber ein Wechsel von einer anderen evangelischen Gemeinde hierher kommt häufiger vor."

Diese Anziehungskraft seiner Gemeinde führt der 46-Jährige allerdings weniger auf seine eigenen Fähigkeiten als vielmehr auf die Verdienste seines Vorgängers zurück, dem er im Februar nachfolgte: Hans Wilhelm Ermen war 35 Jahre lang Pfarrer in St. Reinoldi Rupelrath. Auch der heute 65-Jährige ist ein bescheidener Mann und stellt daher zunächst die wichtige Rolle des derzeitigen Jugendleiters bei der Vitalisierung der Gemeinde heraus. Aber dann erzählt er, wie dieser Prozess begann: "In den 70er Jahren war die Jugendarbeit gleich Null. Die gab es einfach nicht." Und daher habe er den Wunsch der damaligen Jugendlichen erfüllt, einen Jugendbibelkreis zu gründen: "Das war die Keimzelle."

Junge Erwachsene gestalten den Gottesdienst

Aus dieser Keimzelle ist vieles erwachsen: So gibt es mit "Gottesland" einen speziellen Gottesdienst für Kinder und mit "Gipfeltreffen" einen für Jugendliche. Und dann ist da noch "FreiRaum", ein Gottesdienst, den die jungen Erwachsenen der Gemeinde an jedem vierten Sonntag im Monat nach ihren eigenen Vorstellungen gestalten. Er wurde im Dezember 2012, also noch unter Pfarrer Ermen, ins Leben gerufen. Der erinnert sich an die Anfänge so: "Ursprünglich sollte es ein normaler Gottesdienst mit etwas moderneren Liedern werden. Aber das hat den jungen Leuten nicht gereicht." 

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Daher entwickelten sie ein Konzept, das im Wesentlichen auf vier Säulen ruht: Bei "FreiRaum" werden auch Lieder jenseits des Evangelischen Gesangbuchs gesungen, vor allem Worship-Songs, begleitet von einer Band statt einer Orgel. "FreiRaum" fängt später an als der normale Gottesdienst, erst um 11 statt schon um 10 Uhr. "FreiRaum" beschränkt sich nicht auf eine Frontal-Predigt, sondern enthält Elemente der Partizipation, die Gemeindemitglieder können sich also aktiv am Gottesdienst beteiligen. Und die Predigten bei "FreiRaum" sind weniger theologisch-theoretisch als vielmehr alltagsrelevant und praxistauglich.

Alexander Rauen ist der Leiter des achtköpfigen Kern-Teams, das "FreiRaum" organisiert. Der 31-Jährige beschreibt dessen Stellenwert  so: "Wir schließen die Lücke zwischen dem Jugend- und dem Standard-Gottesdienst." Und Carolin Lampe, Mitglied im Organisations-Team ergänzt: "Wir haben von der Gemeinde damals einen riesigen Vertrauensvorschuss bekommen. Im Sinne von 'Macht mal, wie Ihr denkt.'" Die 29-Jährige räumt aber ein, dass es trotzdem manchmal zu Differenzen zwischen jüngeren und älteren Gemeindemitgliedern gekommen sei: "Einige mögen es lieber traditionell, die fühlen sich im Standard-Gottesdienst einfach wohler." Zu dieser Problematik sagt Hans Wilhelm Ermen: "Für die gibt es ja dreimal im Monat die herkömmliche Kost."

Bei den englischen Liedern verstummen die Senioren

Im Übrigen kämen zu diesen Standard-Gottesdiensten auch die jüngeren Gemeindemitglieder, insofern könnten die älteren auch zu "FreiRaum" kommen: "Da passieren ja keine ungebührlichen Dinge."

Ein Gottesdienst, drei Generationen: Liselotte, Bettina und Delia Schulz (von links).

Stattdessen wird viel gesungen – und die Senioren singen mit. Zwar sind sie in der Unterzahl, aber ihre Stimmen sind laut und klar zu hören. Nur wenn der Gitarrist und der Keyboarder englischsprachige Lieder anstimmen, verstummen die meisten von ihnen oder verfallen in indifferentes Summen.

Ähnlich hält es Liselotte Schulz: "Englisch ist schwierig für mich. Aber ich sing’ mit, was ich kann." Die 77-Jährige ist kein Gemeindemitglied, aber gerne zu Gast in St. Reinoldi Rupelrath: "Es gefällt mir gut hier, auch wegen der vielen jungen Leute." In ihrer eigenen Gemeinde, in der sie seit mehr als 40 Jahren Mitglied ist, seien die Gottesdienste traditioneller: "Die Predigten sind bei uns auch gut. Aber hier ist alles ein bisschen lockerer und weniger steif."

Liselotte Schulz ist mit ihrer Tochter Bettina und ihrer Enkelin Delia zum "FreiRaum"-Gottesdienst gekommen. Im Gegensatz zu ihr sind die beiden Gemeindemitglieder in St. Reinoldi Rupelrath. Bettina Schulz: "Rein räumlich gehöre ich eigentlich nicht hier hin. Ich habe mich extra umgemeinden lassen. Hier gibt es Angebote, die ich mir für mein Kind wünsche." Und die 47-Jährige ist sich ziemlich sicher, den Geschmack ihrer dreijährigen Tochter getroffen zu haben: "Immer, wenn ich sie frage 'Kommst Du mit?' sagt sie 'Ja!'"

###mehr-links### Von der heutigen Predigt Pfarrer Clevers zum Thema "Zur Freiheit berufen" hat sie allerdings nicht viel mitbekommen, das gibt sie offen zu. Sie hat während des Gottesdienstes mit ihrer Tochter in einer Krabbelecke in einem Nebenraum der Kirche gespielt: "Aber die Lieder und die ganze Stimmung – das war schön. Wie immer." Und ihre Mutter ergänzt: "Hier ist Leben!"

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