"Es geht nicht allein um die Nützlichkeit"

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"Es geht nicht allein um die Nützlichkeit"
Die Flüchtlingszahlen werden nach Auffassung des Präsidenten des Nürnberger Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF), Manfred Schmidt, weiter steigen. Zur Lösung des Problems müsse die Weltwirtschaft neu ausgerichtet werden, sagte Schmidt im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). Zum Thema Fachkräftezuwanderung sagte Schmidt, nicht nur der demografische Wandel mache sie notwendig, sondern die Globalisierung, vor der sich Deutschland nicht sperren dürfe.
15.02.2014
epd
Christiane Ried und Achim Schmid

Herr Schmidt, die Flüchtlingszahlen steigen stetig, haben Sie eine genaue Prognose?

Manfred Schmidt: Wir hatten 2007 rund 19.700 Erstanträge, 2013 waren es 109.000. Auch in den kommenden Jahren gehen wir von hohen Flüchtlingszahlen aus. Afghanistan ist noch kein wirklich geordnetes Land, Irak und vor allem Syrien werden für längere Zeit keinen Frieden finden, der Konflikt wird wahrscheinlich zunehmend auf Nachbarländer wie Jordanien und den Libanon ausstrahlen. Aus Ägypten erwarten wir einen weiteren Anstieg: Während 2012 nur 267 Menschen von dort bei uns Asyl gesucht haben, waren es im vergangenen Jahr über 2.000, davon rund 1.500 koptische Christen.

###mehr-personen### Flüchtlingskatastrophen vor Lampedusa lösen große Betroffenheit aus, kommen aber Flüchtlinge in die Nachbarschaft, ist es mit dem Mitgefühl oft recht schnell vorbei. Was kann man dagegen tun?

Schmidt: Diesen Widerspruch gibt es in der Tat. Abends sehen wir die Bilder im Fernsehen, und am nächsten Morgen bildet sich eine Bürgerinitiative gegen die Unterbringung von 20 Flüchtlingen. Auf der anderen Seite sehen wir aber auch eine unglaubliche Unterstützung. Vor einem Vierteljahr haben wir in Kassel-Calden ein Flugzeug mit Flüchtlingen aus dem Libanon empfangen. Ein älteres Ehepaar ist auf uns zugekommen mit einem Schuhkarton voller Spielsachen für die Flüchtlingskinder. Am Zaun standen Leute mit einem Transparent "Herzlich Willkommen" auf arabisch.

Aber dann gibt es auch Fälle wie Berlin-Hellersdorf im vergangenen Jahr.

Schmidt: Als die Proteste gegen die Flüchtlingsunterkunft in Hellersdorf hochkochten, war jede Presseorganisation vor Ort und hat darüber berichtet. Mittlerweile hört man davon nichts mehr. Eigentlich schade. Denn jetzt hat sich eine Bürgerinitiative gegründet, die zum Beispiel den Flüchtlingen Deutschkurse oder Integrationshilfe bietet.

Dass Asylbewerber nicht unbedingt mit offenen Armen empfangen werden, können Sie aber nicht leugnen.

Schmidt: Wir bekommen immer mehr Asylanträge aus Serbien, Mazedonien und Bosnien. Wir hatten im vergangenen Jahr allein aus den Ländern des Westbalkans rund 37.000 Asylanträge. Es ist für die Menschen da draußen etwas anderes, ob ein Flüchtling aus Syrien kommt oder aus Mazedonien, wo die Leute auch Urlaub machen. Viele Schutzsuchende kommen auch aus Serbien, das gerade über einen EU-Beitritt verhandelt. Das stößt bei den Menschen hier auf wenig Verständnis.

Spiegelt sich das auch in der Anerkennungsquote wider?

Schmidt: Die Schutzquote bei den Antragsstellungen vom Westbalkan liegt bei 0,1 Prozent, also praktisch Null. Syrien liegt im Moment bei 96, Irak und Iran bei 55 Prozent. Im vergangenen Jahr haben wir insgesamt 20.000 Menschen Schutz gewährt. Wir gehen sehr sorgfältig vor, denn jeder Asylbewerber ist ein individueller Fall. Manche Anhörungen sind über fünf Stunden lang. Ein Erstverfahren dauert zurzeit im Durchschnitt 7,7 Monate.

"Wir brauchen innereuropäisch eine einheitlichere Situation. Wir haben da lange überlegt, aber noch keine vernünftige Lösung gefunden"

Innerhalb Europas gibt es regelmäßig Streit über Flüchtlinge. Länder wie Italien oder Griechenland stöhnen, weil bei ihnen die überfüllten Flüchtlingsboote aus Afrika ankommen. Warum gibt es kein einheitliches europäisches Asylsystem, so dass etwa die Dublin-II-Verordnung überflüssig wird?

Schmidt: Von der Rechtslage her gibt es ja schon ein europäisches Asylsystem. Schwierigkeiten macht aber die unterschiedliche Entscheidungspraxis der Länder. Während wir beispielsweise die irakischen Christen als verfolgte Minderheit anerkennen, wurden sie in Schweden abgeschoben. Wir brauchen also innereuropäisch eine einheitlichere Situation. Wir haben da lange überlegt, aber noch keine vernünftige Lösung gefunden - auch was die Lastenverteilung angeht, die sehr unterschiedlich ist: 23 Prozent aller Flüchtlinge sind 2012 nach Deutschland gekommen, dann kommen Frankreich und Schweden. Nach einem Quotensystem müssten Spanien, Portugal und Italien wesentlich mehr Flüchtlinge aufnehmen als bisher.

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Europa muss sich die grundsätzliche Frage stellen, ob es auf Dauer sinnvoll ist, dass durch Importe unserer Produkte die lokale Wirtschaft eines afrikanischen Landes beeinträchtigt wird und die Menschen dort keine Lebensgrundlage mehr haben. Es geht also auch um die Ausrichtung der Weltwirtschaft. Da müssen wir auch unseren eigenen Lebensstandard überdenken.

Waren Sie von der Debatte um Armutszuwanderung oder Sätzen wie "Wer betrügt, der fliegt" genervt?

Schmidt: Von solchen Pauschalitäten sind zum Glück alle schon wieder weg. Zur Ehrlichkeit der Debatte gehört aber, dass man das Positive herausstellt und das Negative nicht unter den Tisch fallenlässt. Letzteres kann man am Beispiel Italien deutlich machen. Ein Flüchtling, der zum ersten Mal in Italien europäischen Boden betritt, bekommt dort auch sein Asylverfahren. Bei Anerkennung werden die Flüchtlinge nach den EU-Richtlinien den italienischen Staatsbürgern gleichgestellt und haben Zugang zum italienischen Sozialsystem, das aber nur ganz geringe Leistungen vorsieht. Man kann also - etwas flapsig ausgedrückt - sagen, dass der italienische Staat alle gleich schlecht behandelt. Da ist es dann nachvollziehbar, dass ein Flüchtling sein Verfahren eher in Deutschland bearbeitet haben will, um dann Zugang zu einem besseren Sozialsystem zu bekommen.

Das Bundesamt geht weiter von steigenden Flüchtlingszahlen aus, gleichzeitig hat Deutschland einen Fachkräftemangel. Warum versuchen wir nicht, qualifizierte Asylbewerber zu halten?

Schmidt: Die Situation ist tatsächlich schwierig. Wenn das BAMF in Asylverfahren negativ entscheidet, sind die Flüchtlinge ausreisepflichtig - auch wenn sie gutausgebildete Ingenieure sind. Laut Asylverfahrensgesetz dürfen sie keinen anderen Aufenthaltstitel mehr bekommen. Trotzdem wird der Asylkanal oft genutzt für Arbeitsmigration, das wissen wir aus unseren Anhörungen. Viele denken sich: "Das wird schon irgendwie funktionieren." Etwa zehn Prozent der Asylbewerber haben einen Hochschul- oder einen Fachhochschulabschluss. Da geht dem Arbeitsmarkt Potenzial verloren.

Ist eine Lösung in Sicht?

Schmidt: Die große Koalition hat jetzt vereinbart, dass die Arbeitsaufnahme für Asylbewerber nach drei Monaten möglich sein kann. Außerdem gibt es Überlegungen, abgelehnten Asylbewerbern, die seit Jahren in Deutschland geduldet sind, sich aber gut integriert haben oder gute schulische Leistungen nachweisen, einen Aufenthaltstitel zu geben. Man könnte perspektivisch auch darüber nachdenken, unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen etwa einen Aufenthaltstitel für die Dauer ihrer Ausbildung zu ermöglichen.

"Manchmal habe ich den Eindruck, dass die Deutschen zwar Exportweltmeister sein wollen, aber mit der Welt nichts zu tun haben möchten"

Sehen ausländische Fachkräfte Deutschland als einen attraktiven Standort? Unsere "Willkommenskultur" steht ja immer wieder in der Kritik.

Schmidt: Da sind wir relativ gut aufgestellt. Die OECD hat festgestellt, dass das Zuwanderungs- und Aufenthaltsrecht in Deutschland eines der offensten und modernsten ist. Es hat sich nur noch nicht weit rumgesprochen. Für Ausländer oder den kleinen mittelständischen Unternehmer sieht es kompliziert aus. Wie komm ich an Fachkräfte ran? Wo habe ich meinen Ansprechpartner?

Deutschland hat im Moment den Vorteil, dass es in Europa die größte Wirtschaftsnation ist. Auf der anderen Seite haben wir natürlich auch einen Nachteil - die Sprache. Für die IT-Fachkraft aus Indien ist die Verkehrssprache nun mal Englisch, also geht sie in ein englischsprachiges Land. Dafür kommen viele Studenten aus dem Ausland. In unserem Migrationsbericht haben wir festgestellt, dass wir noch nie so viele ausländische Studierende hatten wie jetzt. 2011/2012 haben über 80.000 Ausländer hier ein Studium aufgenommen.

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Solche Leute will man natürlich halten. Hat man aus den Fehlern der 1960er Jahre gelernt und setzt jetzt tatsächlich mehr auf Integration?

Schmidt: Die Familien von ausländischen Fachkräften sind uns wichtig. Wenn Zuwanderung auf Dauer funktionieren soll, muss man das soziale Umfeld der Fachkraft mit einbeziehen. Außerdem muss man aufpassen, dass die Diskussion im richtigen Kanal bleibt. Viele denken: "Hätten wir diesen demografischen Wandel nicht, dann könnten uns die ausländischen Fachkräfte gestohlen bleiben." Manchmal habe ich den Eindruck, dass die Deutschen zwar Exportweltmeister sein wollen, aber mit der Welt nichts zu tun haben möchten. Es geht nicht allein um die Nützlichkeit der Fachkraft, sondern um die Globalisierung der Welt und damit auch um die Globalisierung Deutschlands.

Deutschland verursacht durch die Abwerbung von Fachkräften in anderen Ländern einen "brain drain". Haben wir dann nicht die Verpflichtung, diese Länder zu unterstützen. Wir profitieren ja von ihnen.

Schmidt: Wir haben vor allem Binnenwanderung, über 50 Prozent der Zuwanderer kommen aus Europa. Die Hauptländer sind Polen, die Russische Föderation, Rumänien und Bulgarien. Viele Ärzte und Pfleger fragen nach, aus Russland vor allem Lehrer. Die Gefahr eines "brain drains" ist da. Schauen wir uns aber Griechenland an. Von dort kommen viele Ärzte, die wir derzeit über eines unserer Programme nach Deutschland holen. Gleichzeitig wissen wir, dass Griechenland im medizinischen Studienbereich weit über die Kapazitäten ausgebildet hat. Einen "brain drain" gibt dort also nicht. Dasselbe trifft auch auf Pflegekräfte aus Rumänien oder Bulgarien zu. Man darf nicht vergessen: Viele dieser Fachkräfte schicken Geld zu ihren Familien in ihr Herkunftsland. Diese Rücküberweisungen haben in den Haushalten der einzelnen Staaten eine erhebliche Größenordnung. Allein dadurch sorgen wir für Stabilität, auch wenn sie nicht staatlich organisiert ist.