Jede Predigt ist politisch

Predigt
Foto: Klaus Eppele/fotolia
Mit Predigten lässt sich Politik machen, wenn das politische Potenzial biblischer Texte sich auf die Herausforderungen der Gegenwart bezieht.
Jede Predigt ist politisch
Ein Gastbeitrag von Kathrin Oxen zum Themenjahr "Reformation und Politik"
Das politische Potenzial biblischer Texte muss auf die Herausforderungen der Gegenwart bezogen werden, etwa bei Fragen im Umgang mit dem Flüchtlingen an Europas Außengrenzen, dafür plädiert Kathrin Oxen, Leiterin des Zentrums für evangelische Predigtkultur im Gastbeitrag für evangelisch.de. Dabei gilt, die Unterschiede zwischen der Wirklichkeit Gottes und die der Welt zu zeigen.

"Wer nur zuschaut und schweigt, macht sich schuldig." Nicht ganz ohne zeittypisches Pathos benannte Heinz-Eduard Tödt vor nunmehr fast 30 Jahren den Anspruch einer sich selbst gesellschafts- und systemkritisch verstehenden Predigtkultur.

Autor:in
Kathrin Oxen
Kathrin Oxen

Kathrin Oxen ist Leiterin des Zentrums für evangelische Predigtkultur in Wittenberg. Für ihre Predigten wurde sie mehrfach ausgezeichnet.

Die Herausforderungen dieser Form der politischen Predigt waren im Zeitalter konkurrierender politischer Systeme in einer noch säuberlich aufgeteilten Welt allerdings im Vergleich zu heute recht überschaubar. Es war leicht, sich zu positionieren und gegen etwas zu sein. Nach der politischen Wende in Europa um 1989 und dem Zuschnappen der "Globalisierungsfalle" spüren Predigerinnen und Prediger zwar noch immer die Wahrheit dieses Appells. Sie tun sich in der Zeit der neuen Unübersichtlichkeit aber erheblich schwerer, ihn in Predigten auch umzusetzen.

Doch jede Predigt ist politisch, sofern sie der realen Lebenssituation von Menschen Einlass gewährt. Und jede Predigt ist auch deswegen politisch, weil sie von der Wirklichkeit Gottes spricht, die mit der Wirklichkeit der Welt in vielfältiger Weise in Spannung steht. Wie kann politische Predigt als "Stimme der Wahrheit" heute laut werden?

Eine politische Predigt muss im Ganzen auf Details blicken

Zunächst ist von Predigerinnen und Predigern eine geschärfte Wahrnehmungsfähigkeit gefordert. Es ist sehr leicht, viele gesellschaftliche und politische Herausforderungen zu benennen und in Listen und Katalogen zusammen zu stellen, die die Zuhörer erschlagen. Statt aber in entmutigender Weise die Vielzahl der Probleme aufzuzählen, muss eine politisch ambitionierte Predigt heute vor allem genau hinsehen und im Blick auf das große Ganze einen Blick für die Details entwickeln.

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Wo wird das große Problem, zu dem ich Stellung nehmen will, klein? Kann ich von Menschen erzählen, die von diesem Problem ganz konkret herausgefordert sind? Gehöre ich möglicherweise selbst dazu? Und bin ich bereit mir einzugestehen, dass ich angesichts der Komplexität vieler Herausforderungen in der globalisierten Welt an den Rand meiner ethischen Urteilsfähigkeit geraten kann?

Zur Wahrnehmungsfähigkeit gehört gerade in der Unübersichtlichkeit der Postmoderne aber auch eine geschärfte Form von Wachsamkeit. Politische Predigt hat ihre stärkste Kraft zweifellos immer in Systemen von Unterdrückung und Unfreiheit entfalten können. Im Dritten Reich, im Südafrika der Apartheid und im Herbst 1989 in Deutschland war es leicht, die Differenz zwischen der Wirklichkeit Gottes und der Wirklichkeit der Welt zu benennen. Aber auch innerhalb dieser Unrechtssysteme gab es Phasen, in denen noch nicht oder nicht klar zu erkennen war, ob und wie sich politische Anschauungen und gesellschaftliche Entwicklungen mit dem christlichen Glauben vereinbaren ließen.

Und auch in der neuen Unübersichtlichkeit gibt es lichte Momente, in denen sich tatsächlich schuldig macht, wer schweigt. Die klare Position, zu der die evangelische Kirche in den vergangenen Jahren im Blick auf das Problem des Rechtsextremismus gelangt ist, kann ein Beispiel dafür sein. Von der Haltung der Wachsamkeit sind wir auch innerhalb einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung nicht automatisch entbunden.

Mit der Bergpredigt lässt sich Politik machen

Wachsam zu sein und zu bleiben, gelingt insbesondere dort, wo sich die Predigt eng auf biblische Texte bezieht. Sie benennen die "Differenzen zwischen der Ordnung Gottes und den unordentlichen Verhältnissen in Kirche und Gesellschaft" (Wilfried Engemann). Die biblischen Texte bringen ihre eigenen Themen mit und schaffen damit eine bisweilen schmerzhafte Eindeutigkeit in der unübersichtlichen Welt. Gleichzeitig stellen sie aber auch Bilder zur Verfügung, die entschlossen die vorfindliche Wirklichkeit überschreiten.

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Von diesem Überschuss an Hoffnung ist wirksame politische Predigt schon immer gekennzeichnet gewesen. Dass man mit der Bergpredigt sehr wohl Politik machen kann – vielleicht nicht als Regierung, aber als Volk – zeigen die Erfahrungen mit der politischen Wende von 1989. Das politische Potenzial biblischer Texte muss auch auf die Herausforderungen der Gegenwart bezogen werden, beispielsweise in der Frage nach dem Umgang mit den Flüchtlingen an Europas Außengrenzen.

Dabei kommt der protestantisch gut etablierten Kategorie des Gewissens eine neue Bedeutung zu. Globalisierung und Individualisierung sind heute eng verbunden. Papst Franziskus sprach bereits einige Monate vor der Katastrophe im Mittelmeer vor Lampedusa von einer Globalisierung der Gleichgültigkeit. Er fragte. "Wer hat geweint um diese Menschen, die im Boot waren? Um die jungen Mütter, die ihre Kinder mit sich trugen? Um diese Männer, die sich nach etwas sehnten, um ihre Familien unterhalten zu können?"

Das Gewissen sitzt irgendwo zwischen Kopf und Herz. Es wird angerührt nicht von Appellen, sondern von Predigten, die den Mut haben, Emotionen zu wecken. Die politische Predigt heute ist die leise, aber eindringliche Stimme der Wahrheit. Sie spricht wachsam, biblisch, genau und anrührend von den Dingen, wie sie sind -  und wie sie nach Gottes Willen sein sollen. Und wer nur zuschaut und schweigt, macht sich schuldig.