"Küsst den Wahnsinn wach!" Verrückt und behindert feiern

Die "Pride Parade - behindert und verrückt feiern" findet am 13. Juli in Berlin statt.
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Die "Pride Parade - behindert und verrückt feiern" findet am 13. Juli in Berlin statt.
"Küsst den Wahnsinn wach!" Verrückt und behindert feiern
Die "Pride-Parade" startet am 13. Juli in Berlin um 15 Uhr am Hermannplatz. Im Interview erzählt Mit-Organisator Dr. Sven Drebes, der selbst im Rollstuhl sitzt, wie es sich behindert und verrückt feiert, was die höchsten Barrieren sind und wie er mit Mitleid umgeht.
11.07.2013
evangelisch.de

"Freaks und Krüppel, Verrückte und Lahme, Eigensinnige und Blinde, Kranke und Normalgestörte – kommt raus auf die Straße, denn sie gehört uns!" heißt es in der Ankündigung zur ersten "Pride Parade". Woher stammt die Idee dazu?

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Dr. Sven Drebes: Aus den USA. Ähnlich wie andere Minderheiten wendet die dortige Bürgerrechtsbewegung behinderter und verrückter Menschen die ihnen zugeschriebenen negativen Eigenschaften in etwas Positives, auf das sie stolz sein wollen. Wir hoffen in Berlin auf einen fröhlichen Umzug behinderter, verrückter und mehr oder weniger normaler Menschen mit viel Musik.

Entsprechend ermuntern Sie: "Malt Eurer Scham Pink und Glitzer auf die Wange, winkt ihr zum Abschied und lasst sie laufen."

Drebes: Wir wollen nicht verleugnen, dass Menschen mit Behinderungen oder Psychiatrieerfahrene auch Scham empfinden. In einer Umwelt, die unser Sein und Leben oft mit aufdringlichen Blicken, Spott und Abweisung kommentiert, kann es schwer sein, ein positives Selbstbild zu wahren. Wir wollen zeigen, dass es dabei jedoch nicht bleiben muss. All denen, deren Integrität tagtäglich angezweifelt wird, wollen wir entgegenrufen: "Ihr habt keinen Grund euch zu schämen! So wie ihr seid, seid ihr toll." Der einzige Verbesserungsbedarf liegt in dem Horizont und der Vorstellungskraft vieler nicht-behinderter oder nicht-verrückter Menschen. Also kommt raus und zeigt euch!

"Menschen, die nicht funktionieren, sollen sich anpassen"

Was genau fordern Sie?

Drebes: Es geht uns darum, so angenommen und anerkannt zu werden, wie wir sind. Die heutige Gesellschaft neigt dazu, Menschen nur dann anzuerkennen, wenn sie etwas leisten, "funktionieren" und sich der gesetzten Norm anpassen. Beeinträchtigte und verrückte Menschen tun dies selten so wie nicht beeinträchtigte - teilweise auch gar nicht. Trotzdem muss eine inklusive Gesellschaft fähig und willens sein, mit uns zu leben. Wir wollen uns nicht immer wieder rechtfertigen müssen, wenn wir etwas nicht schaffen, Unterstützung brauchen oder eine akute psychische Krise haben, sondern selbstverständlicher Teil der Gesellschaft sein.

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Eine inklusive Gesellschaft - wie sollte die aussehen?

Drebes: Inklusion bezieht sich nicht nur auf die Eigenschaften, die als körperliche, kognitive oder psychische Beeinträchtigung gelten. Es geht auch um Geschlecht, Kultur, Alter, sexuelle Identität und vieles andere. Die Frage kann also nicht sein, ob sich die Gesellschaft um die eine oder andere Minderheit kümmert, sie muss jeden Menschen in seiner komplexen Ganzheit annehmen.

Ganz offensiv sprechen Sie "Freaks und Krüppel, Verrückte und Lahme" an. Warum diese klare Sprache?

Drebes: Wir wollen provozieren, zum Nachdenken und Diskutieren anregen. Es geht darum, negativ besetzte Begriffe zu "kapern" und zu wenden. Solche sind ja noch gebräuchlicher, als viele wahrhaben wollen.

Fühlen sich Menschen mit Behinderung so nicht beleidigt?

Drebes: Einige sicher. Wir haben aber nur wenige negative Reaktionen bekommen. Der Zusammenhang ist wohl so eindeutig, dass den meisten Menschen klar ist, wie die Worte gemeint sind.

"Die Toleranzschwelle ist gesunken"

Es wird offen über ADHS bei Kindern gesprochen, ebenso weit verbreitet scheint Burn-out, Promis bekennen sich zu ihren Depressionen. Sind zumindest psychische Krankheiten endlich akzeptiert in der Gesellschaft?

Drebes: Nein. Man spricht zwar über Kinder mit ADHS, gleichzeitig wurde aber noch nie so viel Ritalin verordnet wie heute. Gibt es wirklich mehr "Zappelphilippe" als vor zehn, 20 oder 40 Jahren? Oder ist die Toleranzschwelle gegenüber "wilden" Kindern gesunken? Depression wird nur so lange akzeptiert, wie es eine vorübergehende "Krankheit" ist, die geheilt wird oder wurde. Die relativ neue Diagnose "Burn-out", die ja eine Form der vorübergehenden Depression mit einem bestimmten Auslöser ist, macht dies überdeutlich. Sobald es chronisch wird, sieht die Sache ganz anders aus! Da kommt schnell der Verdacht auf, sich nur nicht "richtig" zusammen zu reißen. Jeder sollte sich fragen, ob er selbst offen über die eigene Schizophrenie, Bipolare Störung oder Panikattacken sprechen würde?

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Viele Menschen sind unsicher und wissen nicht, wie sie mit der Behinderung, dem "Anderssein" eines Mitmenschen umgehen sollen. Was raten Sie?

Drebes: Da gibt es keine allgemein gültige "Gebrauchsanweisung", jeder Mensch ist ja anders. In jedem Fall ist vorher fragen aber besser als ungefragt helfen. Außerdem sollte ein "Nein, danke!" akzeptiert werden.

Nervt Sie Mitleid?

Drebes: Wir sagen auch "Beeinträchtigt- oder Verrückt-Sein ist nicht schrecklich." Mitleid nervt oft und steht einem gleichberechtigten menschlichen Umgang im Weg. "Mit leiden" sollte man nur, wenn man weiß, ob und wenn ja woran der Andere überhaupt leidet. Die Mitglieder der Gesellschaft, die sich als "normal" oder "gesund" empfinden, projizieren eingefahrene Bilder auf die behinderten und verrückten Menschen. Natürlich gibt es Beeinträchtigungen, die mit Schmerzen verbunden sind, und natürlich empfindet ein Teil der verrückten Menschen ihre Situation als belastend. Das zu verallgemeinern, ist jedoch falsch. Und oft sind eben nicht die Beeinträchtigungen schrecklich, sondern die Barrieren, die die Gesellschaft aufbaut, teils sogar aus Mitleid.

Immer wenn neue Techniken bekannt werden, mit denen man eventuelle Behinderungen bei ungeborenen Kindern noch früher und besser feststellen kann, brandet in Politik, Kirche und Gesellschaft eine Diskussion über Medizin, Ethik, Moral auf.

Drebes: Dabei fehlt der Wille, die Betroffenen auf Augenhöhe einzubinden. Der Blut-Gentest zu Trisomie 21 konnte nur entwickelt werden, weil einige Wissenschaftler in ihren Labors ihr Vorurteil pflegten, dass es besser sei, den Eltern die Möglichkeit zu geben, sich Kinder mit Trisomie 21 zu "ersparen". Hätten sie mit Betroffenen gesprochen, womit ich auch Eltern meine, hätten sie die Idee vermutlich schnell verworfen. In der Realität erfahren die Betroffenen aber meist erst von derartigen Entwicklungen, wenn die Pflöcke schon eingeschlagen sind.

"Vielleicht will der Lahme gar nicht unbedingt laufen"

Sie wollen keine Experimente, um "Menschen zu verbessern und Probleme zu beseitigen". Was meinen Sie damit?

Drebes: Es gibt immer mehr Bemühungen, "Blinde zum Sehen und Lahme zum Gehen" zu bringen. Dabei wird zum einen ganz selbstverständlich davon aus, dass der Lahme unter allen Umständen gehen können will. Die Betroffenen werden also nur unzureichend eingebunden. Zum anderen sind solche technischen Entwicklungen oft mit Risiken und Nebenwirkungen verbunden, die von den Medizinern außer Acht gelassen werden. So werden Menschen zu Versuchsobjekten. Dahinter steckt wieder das Ideal,  des leistungsfähigen, angepassten Menschen, dem diejenigen, die davon abweichen, um jeden Preis angepasst werden sollen.

Was sind die hinderlichsten Barrieren im Alltag?

Drebes: Alle Menschen Behinderungen stoßen auf die Barrieren  in den Köpfen, also Vorbehalte, Vorurteile, Ignoranz usw. Diese sind auch Ursache vieler anderer Barrieren. Manches ändert sich schnell, manches erst nach Jahrzehnten. Protest wie der bei der "Pride Parade" aber lohnt sich.