Natalias Erinnerung an den 26. April 1986

Foto: VISUM
Tschernobyl nach der Katastrophe.
Natalias Erinnerung an den 26. April 1986
Natalia Bandurko wohnt in Stawropol zusammen mit ihrem Mann Waleri und ihre Tochter Polina. Über die große Tragödie in ihrem Leben zu sprechen, fällt ihr schwer: Am 26. April 1986 musste Natalia alles aufgeben. Ein persönliches Schicksal nach der Katastrophe von Tschernobyl.
26.04.2013
Alexandre Sladkevich

Sie spricht nie darüber, warnt mich ihre Tochter Polina: "Das Thema ist Tabu. Es bringt meine Mutter aus der Fassung und macht sie traurig." Natalia Bandurko wohnt in Stawropol zusammen mit ihrem Mann Waleri und ihre Tochter Polina. Sie besitzen ein kleines Zoogeschäft, eine Drei-Zimmer-Wohnung, ein kleines Auto und eine Perserkatze. Sie sind sehr gastfreundlich, vom Alltag gelegentlich beunruhigt, versuchen sich gesund zu ernähren, führen also ein ganz normales Leben.

Nur die engsten Freunde und Verwandten wissen, dass Natalia, die ständig Witze macht und die Menschen neckt, sehr lecker kocht und vor dem Schlafengehen ein Stündchen vor dem Fernseher hockt, ein Geheimnis hütet, eine persönliche Tragödie, die sie seit fast 27 Jahren nicht loslässt.

"Ich sah die Feuersäule und sie war riesig"

Nach einigen Tagen sagt Polina schließlich: "Meine Mutter wird darüber reden... Aber bitte vorsichtig, man darf sie nicht mit Fragen überrennen." Natalia kommt in Polinas Zimmer, nimmt einen Stuhl und stellt ihn in die Mitte, wie bei einem Verhör. Das Lächeln ist von ihrem Gesicht verschwunden. "Was wollen Sie wissen?" fragt sie unsicher und fängt sofort an zu erzählen, offensichtlich um Fragen auszuweichen. "Ich war Stellvertreterin des Sekretärs für ideologische Arbeit beim Komsomolkomitee in der Verwaltung des Kernkraftwerkbaus… An jenem Tag sah ich die Feuersäule und sie war riesig, wie ein Brenner. Doch wusste keiner etwas von der Explosion. Später wurde uns mitgeteilt, dass wir evakuiert werden. Für nur drei Tage. Bei der Evakuierung gab es keine Panik, alles verlief ruhig."

Natalia Bandurko

Natalia macht keine Pausen. Es scheint, sie sei gar nicht hier und plötzlich hört man ihre Gedanken. "Und für bloß drei Tage, man durfte nur das Nötigste mitnehmen, also Kleidung und Geld. Ich hatte nur eine Jeans, eine Bluse und ein Sweatshirt an. Aber erst Anfang August durften wir zurück, um die Sachen zu holen. Am Kontrollpunkt teilte man spezielle Kleidung, Kittel, Kniestrümpfe und Kopfbedeckungen aus und dann wurden wir mit kleinen Bussen zu unseren Häusern gefahren. Es war verboten worden die Kühlschränke aufzumachen. Ich bekam 30 Minuten Zeit und etwa fünf große Zellophansäcke."

Natalia verhaspelt sich und legt eine Pause ein. In ihren großen, runden Augen scheinen Tränen zu stehen, aber vielleicht ist es nur ein Spiel des Lichts. Der Blick strahl Schmerz und Angst aus. "Es war wie in einem Horrorfilm. Ich war ganz allein in dem sechzehnstöckigen Haus und ich hatte Angst. Es gab keinen Strom und es war schrecklich, allein in völliger Dunkelheit die Treppe hochzusteigen. Ich fürchtete mich auch meine eigene Wohnung zu betreten… Ich steckte Vorhänge, Kleidung und irgendwelche Sachen in die Säcke und ging schnell nach unten, wo ich vom Bus abgeholt wurde. Am Kontrollpunkt wurden alle Sachen mit Geigerzählern geprüft und bei mir "klingelten" nur die Tüllvorhänge, daher wurden sie mir weggenommen. Auch meinen kleinen Farbfernseher durfte ich nicht mitnehmen." Natalia atmet tief aus, das Schlimmste hat sie jetzt hinter sich.

"Man musste ganz von vorne anfangen"

"Zuerst bekam ich einen Schadensersatz von 400 Rubel. Damals lagen die Löhne bei etwa 120 Rubel. Ich bekam auch einen Reisescheck ans Schwarze Meer, weil ich bei der Beseitigung der Katastrophenfolgen nicht von Nutzen sein konnte. Im August gab es eine Nachzahlung, diesmal 4.000 Rubel. Ich kaufte mir eine bulgarische Weste, die jetzt auf dem Balkon hängt." Sie geht in das große Zimmer und zeigt auf eine große Schrankgarnitur, die über die Jahre ihren Glanz verloren hat: "Die habe ich mir auch gekauft. Wenn ich damals eine Familie gehabt hätte, dann hätte jedes Mitglied etwa 3.000 Rubel bekommen. Doch war ich allein. Es war sicherlich viel Geld, aber man musste ganz von vorne anfangen: Möbel, Kühlschrank, Geschirr, Kleidung, einfach alles neu beschaffen. Dafür brauchte man eine Wohnung. Der Eintrag in dem Arbeitsbuch, dass ich dort gearbeitet habe, war keine rechtliche Grundlage, kein Anspruch auf eine neue Wohnung. Man musste ein Dokument besitzen, das bestätigte, in der Zone gelebt zu haben, die ausgesiedelt worden war. Ich hatte den Nachweis, dass ich dort eine Ein-Zimmer-Wohnung zurückgelassen habe, und bekam eine Neue."

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Aus einer Schublade holt Natalia einen roten Anstecker. Auf ihm steht in Gold: "Wahlversammlungskonferenz des Komsomol. Pripjat 1984." - "Sie wurden damals in einer kleinen Auflage angefertigt, nun findet man sie nicht mehr. Ich brauche ihn nicht mehr, weil ich auch ohne ihn genügend Erinnerungen habe." Natalia beendet den Satz und damit ist auch das Gespräch beendet. Zwecklos sie weiter zu fragen. Ihr Blick geht durch die Schrankwand und die Hauswände. In Gedanken ist sie beim 26. April 1986, bei der Katastrophe von Tschernobyl.