"Entführung" bei Jauch: Wie ein Vieh durchs Dorf getrieben

Foto: dpa/Paul Zinken
Natascha Kampusch, ehemaliges Entführungsopfer, bei Günther Jauch.
"Entführung" bei Jauch: Wie ein Vieh durchs Dorf getrieben
"Wie überlebt man eine Entführung? Welche Spuren hinterlässt sie? Wie gelingt ein Leben danach?", fragte ARD-Talker Günther Jauch Natascha Kampusch und andere Entführungsopfer am späten Sonntagabend. Eine Reflexion von Sensationalismus und der Rolle der Medien gelingt dem Moderator trotz guter Gesprächsführung aber nicht.

Natascha Kampusch bleibt kaum etwas erspart. In der Talkshow von Günther Jauch werden Ausschnitte aus dem Film "3096 Tage" gezeigt. Das blasse, schmale Gesicht des Mädchens, das die zehnjährige Natascha Kampusch in Gefangenschaft verkörpert, blickt direkt in die Kamera. "Willst du mich hier unten verhungern lassen?", ruft sie. "Bitte, du musst mir was zu essen bringen, was immer es ist, ich esse es. Bitte! Bitte!"

Noch verstörender als die Filmsequenz selbst ist die Tatsache, dass Kampusch vor laufender Kamera damit konfrontiert wird. Kann man dies Günther Jauch und seiner Redaktion anlasten? Schließlich ist der Filmstart von "3.096 Tage" Ende Februar Anlass für die Sendung zum Thema "Verschleppt und misshandelt - wie gelingt ein Leben danach?" Auch der Spiegel hat am Sonntag groß über den Film berichtet, andere Medien ziehen nach. Die deutsche Prime-Time-Talkshow folgt also lediglich den Gesetzen des Betriebs.

Gespräche mit Kleidungsstücken

Günther Jauch interessiert sich dafür, wie Entführungsopfer während ihrer Gefangenschaft mit Gewalt und Todesangst umgehen. Und wie sie ihr Martyrium später verarbeiten, um weiterleben zu können. Neben Kampusch sind zwei weitere Entführungsopfer in der Sendung zu Gast: Johannes Erlemann, der als 11-Jähriger entführt und zwei Wochen in einer Kiste eingesperrt wurde, und der Journalisten Marcus Hellwig, der vier Monate in einem iranischen Gefängnis überlebte. Außerdem sitzt der Psychologe und Trauma-Experte Georg Pieper mit in der Runde.

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Das Konzept der Sendung ist durchaus schlüssig: Im ersten Drittel nimmt Jauch sich Zeit für ein Einzelgespräch mit Natascha Kampusch. Jauch gelingt es, die drastischen Filmszenen durch eine sachliche und distanzierte Haltung aufzufangen. Auf diese Weise kommt er relativ nahe an Kampusch heran. Etwa, wenn er beschreibt, wie sie während der Gefangenschaft in dem sechs Quadratmeter kleinen Kellerloch versuchte, ihre Isolation zu bewältigen.

Sie hat Kleidungsstücke auf einem Stuhl drapiert und damit in ihrem Kopf andere Menschen erschaffen, mit denen sie sprechen konnte, berichtet Kampusch. "War das so ein zweites Ich, was Ihnen Kraft gegeben hat?" Ihre Antwort: "Ja, das hat mir sehr viel Kraft gegeben. Auch wenn ich frustriert war, über das was der Täter wollte oder was er sagte, habe ich das Ganze dann unten nochmal durchgespielt und alle Möglichkeiten zur Widersetzung geprobt."

Drastische Szenen in "3.096 Tage"

Berührend ist ihre Auskunft darüber, warum sie das Haus des Täters gekauft habe: "Ich wollte einfach nicht, dass andere Leute Zugang dazu haben und mir dann auch noch meine Vergangenheit wegnehmen." Denn darum muss Kampusch heute kämpfen. Auch das macht die Sendung deutlich. In dem Spielfilm "3.096 Tage" wird gezeigt, wie ihr Entführer Wolfgang Priklopil Kampusch vergewaltigt. Günther Jauch will wissen, ob diese Szenen mit ihr abgesprochen wurden. Denn zu der Frage, ob sich der Täter sexuell an ihr vergangen habe, äußerte Kampusch sich in ihrem 2010 veröffentlichten Buch ganz bewußt nicht.

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Am Sonntagabend berichtet sie nun, dass Informationen aus den Vernehmungsprotokollen an die Presse gelangt seien. Dabei habe ihr Anwalt sich dafür eingesetzt, die entsprechenden Passagen aus Gründen des Opferschutzes zu löschen.

Obwohl Jauch das Gespräch gut führt und Natascha Kampusch bemerkenswert ruhig bleibt, hat die Sendung etwas sehr Verstörendes. Weil Kampusch sich in manchen Momenten bei aller Gefasstheit sichtlich zusammennimmt. Weil hier letztlich über Dinge gesprochen wird, die nur Kampusch, ihre Familie und ihre Psychotherapeuten etwas angehen.

Das Schlimmste ist die Zeit danach

Günther Jauch verpasst in der Sendung die Chance, die Rolle der Medien zu reflektieren. Den entscheidenen Satz des Abends sagt Johannes Erlemann, der mit elf Jahren entführt und gegen ein hohes Lösegeld seiner Eltern nach zwei Wochen freigelassen wurde: "Die Entführung war der absolute Albtraum, aber die Zeit danach war fast noch schlimmer. Man wird am Ende wie ein Viech durchs Dorf getrieben."

Erlemann musste zudem erleben, dass sich seine Entführer nach ihrer Haftentlassung im Fernsehen darstellen konnten. Und Kampusch wurde nach ihrer Befreiung erneut zum Opfer. Sie wurde öffentlich angefeindet, ihr wurde vorgeworfen, Fluchtmöglichkeiten absichtlich verpasst zu haben – etwa während eines Skiurlaubs mit Entführer Priklopil oder während einer Polizeikontrolle. Ihr wurde sogar unterstellt, in der Gefangenschaft ein Kind geboren zu haben, dessen Existenz sie nun verheimliche. 

All dies ist Konsequenz einer sensationsheischenden, schaulustigen Berichterstattung. Doch Kampusch ist es gelungen, ganz bewusst mit Medienvetretern umzugehen. Anstatt sich auszuliefern, gibt sie gezielt Interviews. Die Kontrolle über das eigene Leben zurückzugewinnen sei für Entführungsopfer enorm wichtig, erklärt der Psychologe und Trauma-Experte Georg Pieper. Ihre Souveränität wird sich Kampusch hoffentlich weiterhin bewahren.