"Blinde Flecken" bei NS-Aufarbeitung der Kirchen

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Landesbischof Ludwig Müller bei der ersten evangelischen Nationalsynode der Deutschen Christen 1933 in Wittenberg.
"Blinde Flecken" bei NS-Aufarbeitung der Kirchen
Der Berliner Historiker Manfred Gailus hat der evangelischen und der katholischen Kirche mangelnde Aufarbeitung ihrer NS-Vergangenheit vorgeworfen. 80 Jahre nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten gebe es immer "noch reichlich blinde Flecken bei der kirchlichen Aufarbeitung", sagte Gailus in einem Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) zum Holocaust-Gedenktag.

So fehle es bei den Protestanten immer noch an soliden Untersuchungen "einiger tiefbraun gefärbter Landeskirchen, die durch die nationalsozialistischen Deutschen Christen beherrscht wurden, beispielsweise Thüringen oder Mecklenburg", sagte Gailus. Auch die Biografien kirchenleitender Persönlichkeiten, darunter von Kirchenführern und Theologen der Deutschen Christen (DC), müssten besser erforscht werden.

Als Beispiel nannte er unter anderem den Tübinger Neutestamentler Gerhard Kittel, dessen antisemitische Schrift "Die Judenfrage" von 1933 zu den wirkungsmächtigsten einschlägigen Stellungnahmen der Epoche gehört habe. "Es ist nicht erkennbar, dass die zeitgenössische kirchen- und theologiegeschichtliche Forschung das 'Kapitel Kittel' aufgearbeitet hätte", kritisierte Gailus.

70 Prozent der NSDAP-Mitglieder waren auch Kirchenmitglieder

Mit Blick auf die katholische Kirche sagte Gailus, sie habe rückblickend "gewiss diesen einen, relativen Vorteil" gegenüber den Protestanten, dass es in ihren Reihen keine nationalsozialistische Massenbewegung wie die Deutschen Christen gab.

Doch es gebe auch auf katholischer Seite noch genug aufzuarbeiten, betonte Gailus. "Katholische Kirchenhistoriker tun sich bis heute schwer in der Anerkenntnis, dass es in rein katholischen Gebieten genügend katholische Nationalsozialisten gegeben hat, die das NS-Regime mit Überzeugung trugen und repräsentierten, einschließlich des Antisemitismus und der Judenverfolgung. Hier besteht noch reichlich Aufklärungsbedarf."

Laut Gailus waren rund 70 Prozent der NSDAP-Mitglieder auch Kirchenmitglieder. In Berlin, Bayern und der Pfalz sei etwa jeder fünfte evangelische Pfarrer in der Partei gewesen. Rund 40 Prozent der evangelischen Pfarrer in Berlin waren demnach zumindest zeitweilig bei den "Deutschen Christen" organisiert, die öffentlich für den Nationalsozialismus eintraten.

Erheblicher Beitrag zur Festigung des Regimes

"Gewiss wird man sagen können, dass erhebliche Teile der evangelischen Kirchen zur Festigung des NS-Regimes beigetragen haben", betonte Gailus. Er plädierte zugleich für eine differenzierte Bewertung der Bekennenden Kirche (BK). "Die BK war nicht eine Oppositionsbewegung gegen das NS-Regime, sondern eine innerkirchliche Oppositionsbewegung gegen die Kirchenvorherrschaft der Deutschen Christen."

Manfred Gailus lehrt Neuere Geschichte an der Technischen Universität Berlin. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören auch der Protestantismus und der Nationalsozialismus.