Stimmen, die verstummen

Zeitzeugin Inge Deutschkron
Foto: epd-bild/Marko Priske
Die Zeitzeugin Inge Deutschkron entging der Deportation nur knapp.
Stimmen, die verstummen
Nur noch wenige Zeitzeugen können vom Holocaust berichten
Rund 70 Jahre nach dem Holocaust gibt es nur noch wenige Menschen, die über ihre Verfolgung unter den Nationalsozialisten berichten können. So authentisch wie diese jüdischen Zeitzeugen wird in Zukunft niemand mehr davon erzählen können.
27.01.2013
epd
Jürgen Prause

Anne Frank konnte nicht mehr über ihre Leidenszeit im Konzentrationslager berichten. Sie wurde nur 15 Jahre alt. Kurz vor Kriegsende starb die junge Jüdin im KZ Bergen-Belsen an Typhus. Für die Nachwelt verstummte Anne Franks Stimme mit ihrem letzten Tagebucheintrag vom 1. August 1944. Das nach ihrem Tod veröffentlichte Tagebuch, das sie in ihrem Versteck in einem Amsterdamer Hinterhaus bis zu ihrer Verhaftung geführt hatte, wurde zu einem der bekanntesten Zeugnisse aus der Zeit des Holocaust.

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Andere jüdische Verfolgte, die die systematische Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten überlebten, konnten nach dem Ende ihres Martyriums ihre Erinnerungen weitergeben. Einige fanden erst Jahrzehnte nach dem Krieg die Kraft, über ihre Lebensgeschichte zu berichten. Es sind Menschen wie Max Mannheimer oder Inge Deutschkron, die auch im hohen Alter noch dazu beitragen, dass die Naziverbrechen nicht in Vergessenheit geraten. Die Erinnerungen dieser Zeitzeugen sind Mahnung und Warnung an die Nachgeborenen.

Es lohnt sich, für die Demokratie einzutreten

Max Mannheimer hat als junger Mann unter anderem das KZ Auschwitz-Birkenau überlebt. Unzählige Male hat er in Klassenzimmern seinen Ärmel hochgekrempelt und den Schülern seine auf dem Unterarm eintätowierte Häftlingsnummer 99728 gezeigt. Der heute 92-Jährige verlor fast seine ganze Familie in den Gaskammern. Der Mann mit dem weißen Haar, der in München lebt, ist Vorsitzender der Lagergemeinschaft Dachau und Vizepräsident des Internationalen Dachau-Komitees. Wenn er vom "größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte" erzählt, dann will er den Jugendlichen auch klar machen, dass es sich lohnt, für die Demokratie einzutreten.

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Zu den jüdischen Zeitzeugen, die in Vorträgen und Lesungen an die Judenverfolgung erinnern, gehört auch Inge Deutschkron. In der NS-Zeit entging die junge Frau der Deportation, weil nichtjüdische Freunde sie zusammen mit ihrer Mutter in Berlin versteckten. Inge Deutschkron hat 2006 in Berlin eine Stiftung gegründet, um das Andenken an diese "stillen Helden" wachzuhalten, die unter hohem persönlichen Einsatz den Verfolgten halfen. Zudem will die Stiftung vor allem junge Menschen zu Toleranz und Zivilcourage ermutigen. Am kommenden Mittwoch (30.1.) wird die heute 90-jährige Journalistin und Buchautorin im Bundestag eine Rede anlässlich des Holocaust-Gedenktages halten.

Es gibt heute nur noch wenige Menschen wie Inge Deutschkron oder Max Mannheimer, die rund 70 Jahre nach dem Holocaust über ihre Verfolgung in der NS-Zeit erzählen können. In wenigen Jahren werden diese Zeitzeugen nicht mehr am Leben sein. Der Direktor der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, Günter Morsch, sieht im "allmählichen Verlöschen der Zeitzeugenschaft" einen "großen unersetzlichen Verlust". Mit dem Verschwinden der Zeitzeugen werden nach Überzeugung des Historikers die materiellen Zeugen der NS-Verbrechen wie die KZ-Gedenkstätten immer wichtiger.

Graumann plädiert für "vielfältige Formen des Gedenkens"

Auch für den Präsidenten des Zentralrates der Juden in Deutschland. Dieter Graumann, stellt sich die Frage, wie die Erinnerung an den Holocaust wachgehalten werden kann. Graumann plädiert für "vielfältige Formen des Gedenkens". Dazu zählen nach seiner Auffassung feste Gedenktage und Erinnerungsorte. "Mir ist ritualisiertes Gedenken lieber als planvolles Vergessen", sagte Graumann in einem epd-Gespräch. Zudem empfiehlt er Besuche von Jugendlichen in KZ-Gedenkstätten und eine intensive Beschäftigung mit Einzelschicksalen von NS-Opfern an den Schulen.

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Die Sorge, dass die Shoah mit dem Verschwinden der Zeitzeugen allmählich in Vergessenheit geraten könnte, teilt Graumann nicht. Der 1950 geborene Sohn von Holocaust-Überlebenden sieht vor allem die Kinder der NS-Verfolgten, die "Zeitzeugen der zweiten Generation", in der Pflicht, die Erinnerung lebendig zu halten. Diese müssten die Geschichten und Emotionen ihrer Eltern weitergeben. "Auch unsere Kinder und alle weiteren Generationen werden diese schrecklichen Verbrechen bestimmt niemals vergessen", ist der Zentralrats-Präsident überzeugt.