Viermal am Tag das letzte Wort

Foto: epd-bild/Stephan Wallocha
Olaf Krämer an seinem Arbeitsplatz: dem Ohlsdorfer Friedhof in Hamburg.
Viermal am Tag das letzte Wort
Olaf Krämer lacht. "Ich hab die schönste Aufgabe, die es gibt", freut er sich. Man mag es kaum glauben, denn der 49-Jährige tut nichts anderes als Trauerfeiern abzuhalten. Er ist Friedhofspastor auf dem Ohlsdorfer Friedhof in Hamburg, dem größten Parkfriedhof der Welt. Rund 250 Menschen pro Jahr bringt er unter die Erde.
24.11.2012
evangelisch.de

An manchen Tagen hat Olaf Krämer vier Beerdigungen hintereinander. Dann muss er mit dem Auto von Kapelle zu Kapelle fahren, 12 Stück gibt es auf dem Ohlsdorfer Friedhof, dazu drei Feierhallen, zu Fuß sind die Entfernungen zu groß. Der größte Parkfriedhof der Welt in Zahlen: rund 235.000 Gräber, 391 Hektar Fläche, 17 Kilometer Straßennetz, zwei Buslinien, 36.000 Bäume. Olaf Krämer mag seinen Arbeitsort sehr, er genießt das Zwitschern der Vögel, die bunten Blätter im Herbst, die Teiche im Park, die Ruhe. "Es ist ein wunderbares Fleckchen Erde!"

Als Friedhofspastor ist Olaf Krämer für all die Familien da, die für eine Bestattung den Beistand der Kirche suchen, aber nicht den eigenen Gemeindepfarrer bemühen können oder wollen. "Es gibt Menschen, die wollen Distanz wahren, auch im Tode. 'Der Friedhofspastor ist dort am Friedhof und dann lässt der uns auch wieder in Ruhe', sagen sie sich." So ist es meistens. Nur selten suchen die Trauernden länger den Kontakt - wenn sie den verstorbenen Menschen nicht loslassen können und Seelsorge brauchen. Natürlich dürfen sie dann weiterhin kommen.

Der verstorbene Mensch bestimmt die Texte

Seit elf Jahren macht Olaf Krämer diese Arbeit. Die Themen Tod und Seelsorge interessierten ihn schon im Abitur in Hamburg und später in der Promotion in Kiel. "Weil es da um die Substanz des Glaubens geht. Das finde ich eine große Herausforderung, angesichts des Todes noch irgendwas Tröstliches zu denken und auch zu sagen." Niemals sagt er in zwei Beerdigungen dasselbe, seien es noch so viele hintereinander. "Es ist eine sehr angespannte Arbeit. Es ist das letzte Wort, das gesprochen wird, der Ernstfall! Da können Sie nicht irgendwelche Textbausteine nehmen."

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Biblische Geschichten, Psalmen, Gebete, Ansprachen - all diese Texte müssen zu dem Menschen passen, der beerdigt wird. Die Trauergemeinde sollte spüren, dass sie gemeint ist, wenn der Pastor spricht. An der Konzentration der Leute merkt er, ob sie ihn verstehen. "Zum Beispiel hatte ich ein vier Monate altes Baby zu beerdigen, das am plötzlichen Kindstod gestorben war", erzählt Olaf Krämer. "Dann greife ich natürlich auf Texte zurück wie 'Jesus und die Kinder'. Ich bin sehr der Meinung, dass man bildreiche Texte braucht." Dabei muss es keineswegs immer um Trauergeschichten gehen. "Wenn ich das Gefühl habe, die Liebe ist eigentlich das, was hier im Raum liegt, dann nehme ich vielleicht das Hohelied der Liebe. Der verstorbene Mensch bestimmt immer die Auswahl der Texte."

Natürlich ist es einfacher, einen 88-jährigen, lebenssatten Mann zu beerdigen, dessen Angehörige belustigt davon erzählen, wie der Verstorbene den Leuten fröhlich zuprostete und dabei immer ein besonderes Timbre in der Stimme hatte - dann wird auch mal gelacht während der Feier. "In der Trauer gibt es ganz viele unterschiedliche Schwingungen", erklärt Olaf Krämer. "Es gibt Dankbarkeit, auch Erleichterung, stille Freude,… es gibt sogar die Freude, dass der Mensch nun endlich weg ist!"

Das Herz darf durchschimmern

Diese Schwingungen versucht der Pastor im Gespräch mit den Angehörigen zu erfassen, er muss sich sehr schnell und konzentriert auf die Familie und ihre Gefühlslage einlassen. Und dann muss er versuchen zu trösten. "Das geht, indem man dem Menschen sein Herz schenkt und ihm zuhört. Vielleicht ist das die Zusammenfassung der ganzen deutschen Seelsorge des letzten Jahrhunderts. Zuhören, da sein und mit dem Herzen ganz bei der Sache sein." Darin liegt das Credo für seinen Beruf - sogar für sein ganzes Leben.

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Manchmal muss Olaf Krämer sogar aufpassen, dass sein eigenes Herz nicht zu sehr ergriffen wird. Er erzählt von der Beerdigung eines Kindes. "Da kam ich unkonzentriert in die Situation, und plötzlich steht da dieser rührende weiße kleine Kindersarg mit Orchideen geschmückt vor mir, und ich musste erstmal… innehalten." Es ist nicht die Trauer der Eltern, die er in einem solchen Moment empfindet, es ist mehr eine Rührung. "Die lässt auch manchmal die Stimme zittern", gibt Olaf Krämer zu. "Dann versuche ich, da durch zu kommen und die Fassung zu wahren. Aber durch die Fassung schimmert schon das Herz durch, das gerührt ist. Das ist auch gut so. Die Leute dürfen spüren: Der Mann, der da jetzt sprechen soll, der ist angerührt. Das ist vielleicht auch schon Evangelium."

Worte wie "Herz" und "Liebe" und "Leben" sagt Olaf Krämer oft, wenn er von seiner Arbeit erzählt. Ständig ist er damit beschäftigt, die richtigen Formulierungen zu finden - das, was er unter "Evangelium" versteht, für die jeweiligen Trauergäste passend zu übersetzen. Eine besonders fromme Familie mag sich getröstet fühlen durch den Satz "Christus ist auferstanden!" Andere schütteln da nur den Kopf und sagen: "Das tröstet mich gar nicht, übersetz mir das doch mal!" Dann versucht Olaf Krämer es zum Beispiel so: "Die Liebe Gottes ist stärker als das Niedergehen. Er richtet den Menschen, den er lieb hat, nämlich seinen geliebten Sohn, wieder auf. Den hebt er aus Staub zum Himmel." Wieder ein Bild aus Worten.

"Ohne den Glauben müsste ich ganz oft schweigen"

Ob die Menschen so viel "Christliches" überhaupt hören wollen? Olaf Krämer geht davon aus. "Die Leute kommen ja zum Pastor, nicht weil sie einen weltlichen Redner wollen, sondern weil sie sich von ihm erhoffen, dass er da einen Horizont eröffnen kann, einen Silberstreifen am ganz fernen Horizont, den nur der Pastor, nur die Kirche ihnen sagen kann." Und der Pastor selbst wüsste ohne seinen Glauben übrigens auch nicht, wie er so viele Menschen beerdigen sollte.

Wieder erzählt Olaf Krämer von dem vier Monate alte Baby, das am plötzlichen Kindstod verstorben war. "Wie soll man die Leute mit vernünftigen Gründen trösten?" ruft er mit aufgeregter Stimme. "Man kann doch eigentlich nur sagen: Es ist einfach nur schrecklich!" Er denkt einen Moment nach und wird ruhig. "Aber ich kann immer noch stottern und stammeln und sagen: Wissen Sie, mir fällt an Gründen nichts ein, aber ich kann glauben, dass es einen Gott gibt, der dieses Kind hält und in die Hand nimmt und ihm eine Zukunft eröffnet. Das kann ich wenigstens noch sagen. Da bin ich froh, dass ich den Glauben habe, denn sonst müsste ich ganz oft schweigen bei Trauerfeiern. Weil das einfach viel zu traurig ist."

Trost, Hoffnung, Glaube - dann wieder Trauer, Weinen, Verzweiflung. Wo geht der Pastor hin mit all den Gefühlen, die der Job ihm aufbürdet? Er bringt sie raus in die Natur, auf Wiesen und in Wälder. Olaf Krämer besitzt einen spanischen Windhund, "Rubio", der viel Auslauf braucht. "Das ist ein wunderbares Therapeutikum, mit dem Spaziergänge zu machen", erklärt er. "Da kann man Trauerfeiern vorbereiten und man kann auch richtig was abarbeiten." Worte suchen - und sie wieder wegbringen.