"Gutes Verlieren gibt es nicht"

Paul Biedermann
Foto: dpa/Hannibal
Schwimmer Paul Biedermann verliert bei den Olympischen Spielen in London den Kampf um die Medaillen.
"Gutes Verlieren gibt es nicht"
"Endlich eine Medaille für die deutschen Olympioniken", hieß es, als Britta Heidemann im Fechten Zweite wurde und Silber gewann. Es geht längst nicht mehr nur darum, dabei zu sein. Was aber, wenn es mit dem Gewinnen nicht klappt? Kann man lernen, gut zu verlieren? Diplomsportlehrer und Motivationscoach Peter Boltersdorf ist in London vor Ort, um die Gewichtheber und Freistilringer zu unterstützen. Von Sportlern zu fordern, dass sie gute Verlierer sein sollen, sei ein Angriff auf die menschliche Natur, sagt er im Interview mit evangelisch.de.

Paul Biedermann, der Schwimmstar, hatte zuerst beim Rennen über 400 Meter Freistil einen Durchhänger und kam nicht, wie erhofft, ins Finale. Am nächsten Tag stand der Wettkampf über 200 Meter an. Da hat er zwar auch keine Medaille gewonnen, aber im Halbfinale ist er sehr gut geschwommen. Wie motiviert man sich als Sportler nach einer Niederlage, wenn man wieder schnell fit werden muss für den nächsten Wettkampf?

Peter Boltersdorf: Dafür gibt es kein Pauschalrezept. Jeder Trainer und jeder Athlet muss nach seiner eigenen Situation schauen, um eine Lösung zu finden. Von außen gesehen wirkt Paul Biedermann so, als wäre er sehr selbstbewusst. Dann kommt er aus einer Niederlage gestärkt hervor, wenn er erkennt, was er für Fehler gemacht. Menschen, die sehr selbstsicher sind, lernen nicht daraus, dass sie Dinge richtig machen, sondern aus Fehlern. Die müssen sie erkennen und verstehen, dann können sie darauf reagieren. Und wenn das der Fall war bei Paul Biedermann, dann kann er anschließend eine bessere Leistung erbringen.

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Wenn die Wettkämpfe so schnell aufeinander folgen – kann man dann überhaupt in die Fehleranalyse gehen oder sagt man dann einfach: "Schwamm drüber, beim nächsten Mal klappt es besser?"

Boltersdorf: Das wird nicht helfen. Es muss eine Fehleranalyse geben und die Betreuerteams im Hochleitungssport sind auch darauf spezialisiert sofort mit den Daten, die da erhoben werden, eine Analyse zu machen. Das haben die im Griff.

Aber Achtung: Wenn ein Sportler eher selbstunsicher ist und sich selbst immer wieder neu in Frage stellt, dann verstärkt ja so eine Niederlage die Selbstzweifel. Und dann muss man das Gegenteil tun, dann muss man diesem Menschen erst recht die Information geben, wie gut er es kann, und muss von außen eine Hilfe anbieten, dass er ein positives Selbstbild aufbaut. Da hilft die Fehleranalyse gar nichts.

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Um genau zu wissen, was der Sportler für eine Persönlichkeit hat, arbeite ich mit einer Persönlichkeitsanalyse, dem Reiss-Profil. Das gibt ohne jede Bewertung und Typologisierung Auskunft, wie ein Mensch "tickt". Denn Leistung entsteht allein aus der Persönlichkeit desjenigen, der im Wasser, auf dem Fußballfeld oder wo auch immer ist. Und nicht aus der Persönlichkeit des Trainers.

Man weiß aus der Hirnforschung, dass Gefühle ganz stark mit dem Austausch von Botenstoffen im Gehirn zusammenhängen. Was passiert im Gehirn, wenn wir verlieren?

Boltersdorf: Wir erfahren Frust. Über das Gewinnen erleben wir eine innere Belohnung, insbesondere dann, wenn das Gewinnen eine starke emotionale Bedeutung hat. Das ist nicht bei jedem Menschen so, aber bei vielen. Körpereigene Drogen lösen das aus - ein sehr komplexes System. Mit der Erwartungshaltung, diese Euphorisierung zu erfahren, geh ich auch anschließend in den Wettkampf. Und dann tritt das nicht ein: Dann haben wir Frust. Man kann das wirklich verstehen wie einen Drogenentzug. Das ist der Grund, weshalb der Mensch sich dann zunächst einmal schlecht fühlt.

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Dieses Frusterlebnis kann man nicht ignorieren. Dahinter steckt ja auch die Enttäuschung, dass die Erwartungshaltung sich unter Umständen über Jahre aufgebaut hat, mit intensivem Training und der Fokussierung auf diesen einen Wettkampf hin. Das kann auch eine Traumatisierung bedeuten. Und wenn die vorliegt, dann muss man ihr mit einer Therapie zur Enttraumatisierung begegnen.

Wir bevorzugen die Methode des EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing). Das ist eine Mischung aus Selbsthypnose und Begleitung über akustische und optische Signale. Dabei werden, simpel ausgedrückt, das Ereignis und die dazugehörige Emotion voneinander getrennt. Das ist das, was man Verarbeiten nennt. Dann kann man sich an das Ereignis erinnern, ohne die gleichen negativen Emotionen zu haben.

Ist das Ergebnis davon, dass man dann ganz neidlos auch auf die Erfolge anderer blicken kann?

Boltersdorf: Man kann auf das eigene Versagen oder das Pech - wenn es in manchen Sportarten um Hundertstel-Sekunden geht - analysierender und nüchterner zurückschauen, ohne sich gekränkt zu fühlen. Beim Thema Neid muss man schon auf andere Aspekte der Persönlichkeit gucken. Das hat auch den Hintergrund, dass man es möglicherweise dem Gegner nicht gönnt, zu gewinnen. Es gibt einige Sportler, die extrem stark auf Wettkamp gepolt sind; und ganz viele von diesen Sportlern haben einen "Lieblingshassgegner". Dann wird zwar die eigene Niederlage noch akzeptiert, aber nicht, dass dieser spezielle Mensch weiter vorne ist. Auf der einen Seite ist das auch ein starker Motivationshintergrund. Auf der anderen Seite wirkt das stark negativ und sozial unverträglich und sorgt dafür, dass ich Neid oder Missgunst oder Rachegelüste habe. Damit muss man gesondert arbeiten.

"Dass man ein 'guter Verlierer' sein soll, ist eine gesellschaftliche Vereinbarung"

Was würden Sie als "gutes Verlieren" bezeichnen?

Boltersdorf: Ganz offen gesagt: Das gibt es nicht. Wir sprechen hier von einer kulturellen Definition, die einen starken humanistischen Hintergrund hat. Das als Anspruch zu nehmen, ist ein Angriff auf die menschliche Natur. Ich glaube, es ist nicht sehr verfehlt, wenn man sagt, dass Sport auch ein Spielfeld ist, um evolutionär angelegte Aspekte im Menschen spielerisch zu leben. Und dazu gehört das Thema Kämpfen und Gewinnen. Und Kämpfen und Gewinnen sind direkt verbunden mit dem Thema Aggression. Das ist in unserer Persönlichkeit untrennbar angelegt.

Und das "gute Verlieren" gibt es eigentlich nur für Menschen, die sehr stark ethisch und moralisch wertorientiert sind. Die können auch eine massive Niederlage erleiden und zugestehen, dass der andere besser war. Aber viele Sportler sind allein im Sport, weil es eben darum geht zu gewinnen - und nicht, weil es um ethisch moralische Fragen geht. Sie wären einfach überfordert, wenn man das von ihnen einfordern würde. Dass man ein "guter Verlierer" sein soll, ist eine gesellschaftliche Vereinbarung. Die hat auch im sozialen Umgang sicher einen positiven Aspekt, aber realistisch gesehen sind nach meiner Schätzung 80 Prozent der Athleten damit überfordert.

Würde es mich im Hochleistungssport behindern, wenn ich den Anspruch an mich hätte, gut verlieren zu können?

Boltersdorf: Nein, das auf keinen Fall. Aber es hätte sicher andere Konsequenzen: Die Menschen, die sehr ethisch und wertorientiert sind, haben auch eine ganz eindeutige Einstellung dem Thema Doping gegenüber: Für sie ist es absolut nicht akzeptabel, einen Sieg oder eine Leistung nicht regelkonform zu erreichen. Und es gibt Sportarten, in denen wird nach wie vor sehr stark mit unerlaubten Mitteln gearbeitet, die werden nur besser maskiert inzwischen. Da wird dieser Sportler keine Chance haben zu gewinnen. Die anderen entscheiden sich auch nicht direkt für das Doping, aber sie sagen: "Entweder bin ich dabei und dope auch, oder ich trete nicht an."

Kann man denn das "gute Verlieren" lernen, im Sinne von: "gut mit einer Niederlage umgehen" zu können?

Boltersdorf: Aus der Niederlage zu lernen und die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen, die mich im Erfolg und in der Leistung weiterbringen - dieses gute Verlieren ist ganz wichtig. Das wichtigste dabei ist, dass der Trainer es schafft dem Athleten zu zeigen, wie viel es bringt, wenn er aus Niederlagen die richtigen Schlussfolgerungen zieht. Das versäumen manche Trainer, aber das ist mit Sicherheit erlernbar.