Der Autor und Theologe Thomas Weiß gestaltet im Rahmen des zweiten Bücherfestivals Baden-Baden am Sonntag (9. November) in der Stadtkirche Baden-Baden einen Literaturgottesdienst. Das Format stellt den Dialog zwischen Bibel und Literatur in den Mittelpunkt. "Ein Literaturgottesdienst ist ein Gottesdienst, der in engem Dialog mit Literatur steht, besonders mit Lyrik", sagt Thomas Weiß dem Evangelischen Pressedienst (epd).
Für den protestantischen Theologen haben Gebet und Dichtung vieles gemeinsam: "Beide wollen gut bedacht sein, bevor sie ausgesprochen werden." Weiß orientiert sich mit dem Gottesdienst am Thema des Bücherfestivals: "Wo das Lesen zum Erlebnis wird". Das Publikum selbst mache den Reiz des Literaturgottesdienstes aus, sagt er.
Es ist bereits das zweite Mal, dass Weiß während des Bücherfestivals Baden-Baden einen Literaturgottesdienst hält. "Ich rechne mit Menschen, die mit dem Gottesdienst kaum noch vertraut sind, die in Religiösem aber durchaus noch Antworten vermuten, sonst kämen sie nicht zum Gottesdienst", betont Weiß und führt aus: "Menschen, die neugierig sind, ob Kirche eine Sprache findet, die in einem literarischen Kontext relevant bleibt."
Gottesdienst mit Bezug auf Andersens Märchen
Der diesjährige Gottesdienst unter dem Titel "Neue Kleider oder: Sprich es aus" nimmt Bezug auf Hans Christian Andersens Märchen von der entlarvten Nacktheit des Kaisers. In "Des Kaisers neue Kleider" ruft das Kind am Ende: "Der Kaiser hat gar nichts an!" Literatur kann Wahrheit oft klarer ausdrücken als andere Ausdrucksformen, ist Weiß überzeugt.
"Wie immer das Kind hieß, er oder sie, das kleine Kind: Es hat getan, was Literatur tun kann. Was ein Buch, ein Essay, ein Gedicht tun sollte, wenn es relevant sein will, wenn es in die Zeit gehören soll: Es nennt die Dinge beim Namen. Es sagt, was Sache ist", heißt es in der Predigt für den Gottesdienst am Sonntag, die dem epd schriftlich vorliegt. Und weiter: "Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, ich für meinen Teil sehne mich nach Wahrheit - weil so viel Unwahrheit im Schwange ist."
Weiß: Menschen sehnen sich nach Wahrheit
Literarische Texte unter anderen von Hilde Domin, Wolfgang Borchert, Matthias Claudius oder Johann Wolfgang von Goethe treten während der Liturgie mit biblischen Worten in einen Dialog. Auf die Frage der Gemeinde "Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, und des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst?" aus Psalm 8 wird mit Matthias Claudius (1740-1815) geantwortet: "Der Mensch lebt und bestehet nur eine kleine Zeit. Und alle Welt vergehet mit ihrer Herrlichkeit."
Wahrheit, so Weiß, sei ein zentrales Thema seiner Arbeit und auch der Gegenwart. "Unsere Zeit ist geprägt von Lüge und Halbwahrheit." Auch gebrochene politische Versprechen zählt der Theologe dazu. Umso mehr sehnten sich die Menschen nach Orten, an denen Dinge beim Namen genannt würden. Die Kirche sei genau der richtige Ort, um die Wahrheit auszusprechen. "Wenn nicht hier, wo dann?", fragt Weiß. In seiner Predigt heißt es: "Jesus sagt, die Wahrheit wird euch frei machen." Und dann zitiert er das Alte Testament: Die Psalmen seien voll damit, wenn es darum gehe, die Wahrheit zu sagen und nicht die Lüge zu leben.
Zugleich verweist der Autor auf Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die in anderen Ländern ihr Leben riskieren, wenn sie Wahrheiten aussprechen. Über die Schriftstellervereinigung, das PEN-Zentrum (Poets, Essayists, Novelists) Deutschland, sei er mit Initiativen wie "Writers in Exile" und "Writers in Prison" verbunden. "Dort begegne ich Menschen, die ihr Leben riskieren, wenn sie die Wahrheit sagen - etwa durch Kritik an Macht oder an kapitalistischen Strukturen", sagt Weiß.
Im Literaturgottesdienst will Weiß die christliche Botschaft über literarische Texte erlebbar machen. "Es ist schon lange mein Anliegen, die großen alten Worte sinnlich und neu zu sagen", betont er. Literatur helfe ihm, eine Sprache zu finden, die anrührt und befragt. "Meine Sprache im Gottesdienst ist immer ein Vorschlag, kein Dogma." Der Gottesdienst solle daher kein dogmatisches Lehrstück sein, sondern eine Einladung, ins Gespräch zu kommen - zwischen Glauben, Zweifel und Poesie.
Der Literaturgottesdienst beginnt am Sonntag, den 9. November, um 10 Uhr in der Evangelischen Stadtkirche am Augustaplatz.


