Die jüngsten Kinder, die das "NeSt" in Wiesbaden in seine Obhut nimmt, sind Neugeborene direkt nach der Entbindung. "Bei allen Familien, die bei uns aufgenommen werden, ist eine Art von Kindeswohlgefährdung vorgefallen", sagt Natalie Bachmann. Sie ist Regionalleiterin im Bereich Jugendhilfe der EVIM gGmbH, die zum Evangelischen Verein für Innere Mission in Nassau (EVIM) gehört, und zuständig für das "NeSt".
Sie betont, dass nicht nur Kinder, sondern Familien aufgenommen werden, weil ebendies das bundesweit einzigartige Konzept der Einrichtung sei: Im Nest begleiten die pädagogischen Fachkräfte die Eltern bis zu sechs Monate lang ganztägig beim Umgang mit ihrem Kind, um deren Versorgungs- und Erziehungsfähigkeit zu prüfen. Denn "NeSt" meine, dass die Kinder behütet sind - und stehe als Abkürzung für "Neustart", so Bachmann.
Das "NeSt" steht im engen Austausch mit Jugendämtern und nimmt generell Kinder zwischen null und zwei Jahren auf, wobei die meisten Anfragen im Bereich zwischen null und sechs Monaten liegen. Das Jugendamt fragt die Pädagoginnen und Pädagogen etwa an, wenn eine Frau, deren Familie bereits wegen einer Kindeswohlgefährdung bekannt ist, in wenigen Wochen einen Entbindungstermin hat.
Die Eltern kommen täglich dazu
"So können wir uns frühzeitig anschauen, ob die Familie für das 'NeSt' infrage kommt", erklärt Bachmann. Manchmal müsse es aber auch schnell gehen, etwa wenn Eltern ihr Kind in die Notaufnahme bringen und der Arzt Verletzungen feststellt. "Dann wird das Jugendamt eingeschaltet und gegebenenfalls klingelt bei uns das Telefon", sagt die Regionalleiterin.
Das Besondere am "NeSt" ist, dass das Kind nicht komplett von seinen Eltern getrennt wird. "Das Kind ist 24 Stunden am Tag und sieben Tage die Woche bei uns, die Eltern kommen aber täglich morgens um 8 Uhr und bleiben meist bis 19 Uhr." Jedoch sind die Eltern nie alleine mit dem Kind, dürfen es auch nicht einfach etwa zum Spaziergang aus dem "NeSt" mitnehmen.
Stattdessen werden die Eltern pädagogisch angeleitet. "Wir beobachten, wie die Eltern auf das Kind eingehen, ob sie seine Signale deuten können. Außerdem achten wir auf Tagesstrukturen, etwa ob die Eltern ihren Terminen und Verpflichtungen nachkommen", so Bachmann. Ausgangspunkt sei die Frage: "Schaffen es die Eltern, ihre eigenen Bedürfnisse hinter die des Kindes zu stellen, oder nicht?"
Alle Schichten sind vertreten
Die Gründe für einen Aufenthalt im "NeSt" seien vielfältig: "Wir haben Eltern hier, die minderjährig und in ihrer eigenen Entwicklung noch nicht so weit sind, sich alleine gut um ein Kind kümmern zu können. Wir haben aber auch psychisch erkrankte Eltern, Eltern mit Suchtverhalten, Eltern, die augenscheinlich die klassische berufstätige Mittelschichtsfamilie bilden, deren Kind aber ein Schütteltrauma, Knochenbrüche oder blaue Flecken hat", berichtet Bachmann. Kindeswohlgefährdung ziehe sich durch die Schichten, betont sie. "Wir haben auch schon Banker-Familien aus Frankfurt aufgenommen".
Bis zu fünf Kinder nimmt das "NeSt" zeitgleich auf. "Ein guter Tag ist, wenn unsere Pädagogen kein Kind auf dem Arm hatten. Denn das bedeutet, dass die Eltern da waren, ansprechbar und belastbar - insofern war es dann auch aus Perspektive der Eltern ein guter Tag", erzählt Bachmann. Die Kinder seien maximal sechs Monate vor Ort, in der Regel sei aber nach rund vier Monaten absehbar, ob die Eltern ihren Aufgaben künftig kindgerecht nachkommen können.
"Wir beenden Maßnahmen auch, wenn wir merken, dass es Hürden gibt, die Eltern nicht überwinden können. Manchmal beenden auch die Eltern die Maßnahme und wünschen, dass ihr Kind in eine Pflegefamilie kommt." Voraussetzung für die Aufnahme im "NeSt" sei, dass die Eltern eine Bereitschaft zum Mitwirken zeigen und ein Bewusstsein dafür haben, was das Kind braucht. Dies lasse sich - manchmal nach einem Neustart - gemeinsam lernen.