Mainz (epd). Menschen in Europa verklären nach einer internationalen Studie die Rolle der Bevölkerung in der NS-Zeit in ihrem Land. „Trotz historischer Unterschiede zeigt sich in allen Ländern ein bemerkenswert ähnliches Bild“, sagte die Studienleiterin Fiona Kazarovytska von der Universität Mainz am Mittwoch. „Die Menschen tendieren dazu, ihre eigene Bevölkerung als 'Opfer-Helden' wahrzunehmen - also als solche, die unter den Nazis gelitten und zugleich mutig Widerstand geleistet haben.“ Für die Studie wurden 5.474 Personen aus Belgien, Frankreich, Litauen, Niederlande, Österreich, Polen, Ukraine und Ungarn befragt. Die Teilnehmenden wurden repräsentativ nach Alter und Geschlecht ausgewählt.
Dabei sei es historisch belegt, dass in vielen Ländern Regierungen oder Teile der Bevölkerung aktiv mit den deutschen Besatzern zusammengearbeitet haben - sei es durch bürokratische Unterstützung bei Deportationen, durch eigene antisemitische Gesetzgebung oder durch direkte Beteiligung an Gewaltakten. Die bewusste, ideologisch motivierte Kollaboration sei jedoch in allen Ländern im Erinnern deutlich weniger präsent als Opferschaft und Heldentum, so das Ergebnis der Studie.
Ähnliche psychologische Muster wie die Tendenz zur moralischen Entlastung durch Betonung von Zwang oder Widerstand sind nach Angaben der Studienleitung für die deutsche Bevölkerung durch frühere Studien gut belegt. Die neue Untersuchung zeige nun, dass sich vergleichbare Formen kollektiver Selbstverklärung auch in anderen europäischen Gesellschaften finden, obwohl deren historische Rollen sehr unterschiedlich waren.
Für dieses Verhalten führt Kazarovytska psychologische Gründe an. „Das dient dem Schutz der eigenen nationalen Identität“, erklärte sie. „Schuld oder Mitverantwortung anzuerkennen ist etwas, das schwer mit einem positiven Selbstbild vereinbar ist.“ Stattdessen blendeten viele Menschen die moralische Ambivalenz ihrer Vorfahren aus und rückten die Vergangenheit in ein günstigeres Licht. Dieser Mechanismus zeige, wie stark das Bedürfnis nach einer positiven kollektiven Identität die Wahrnehmung der Vergangenheit präge - selbst dann, wenn sie von historischen Fakten abweiche.