Herr Heil, Sie sind neuer Kirchenbeauftragter der SPD. Ist das eine Art Trostpflaster für das entgangene wichtige Amt des Bundesarbeitsministers?
Hubertus Heil: Nein. Es geht um den Austausch zwischen Kirchen, Religionsgemeinschaften und Staat. Ich habe den Auftrag, Brücken zu bauen zwischen politischer Verantwortung und religiöser Orientierung. Das ist keine Führungsposition in der Regierung, aber es ist eine wichtige parlamentarische Aufgabe. Gerade in unseren stürmischen Zeiten können die Kirchen und Religionen wichtige Beiträge zum gesellschaftlichen Zusammenhalt, zur ethischen Orientierung und zur Gestaltung unseres Zusammenlebens leisten. Es geht auch um den Dialog zwischen den Religionen in Deutschland, um mehr Respekt und mehr Toleranz.
Sie haben als eines ihrer Vorbilder mal den SPD-Vordenker Erhard Eppler genannt, der in den 80er Jahren als einer der Väter der Friedensbewegung galt. Wie beurteilen Sie heute vom christlichen Standpunkt die ganze Frage der Nachrüstung?
Heil: Heute sehe ich vieles anders als der Jugendliche, der ich in den 80er Jahren war. Damals kam auch ich mit dem lila Halstuch der Friedensbewegung zum Kirchentag 1983 in Hannover. Da war Erhard Eppler Kirchentagspräsident.
Wie kam es zu Ihrem Meinungswandel?
Heil: Ich bin persönlich sehr geprägt durch meine eigene Familiengeschichte. Meine Mutter war Jahrgang 1937 und hat noch kurz vor Kriegsende einen 16-jährigen Bruder verloren, der als Soldat verheizt wurde. Sie selbst war nach Ende des Krieges Vollwaise und musste ihre pommersche Heimat verlassen. Auch deshalb habe ich später als junger Mann den Dienst mit der Waffe verweigert und Zivildienst geleistet.
"Wir sind auch verantwortlich für das, was wir unterlassen"
Würden Sie heute auch den Kriegsdienst verweigern?
Heil: Nein, ich glaube nicht. Ich habe einiges erlebt, was meine Haltung zu militärischen Mitteln verändert hat. Vor 30 Jahren geschah der Völkermord in Srebrenica, als serbische Truppen Bosnier in einer UN-Schutzzone ermordeten und Europa tatenlos zusah. Kurze Zeit später musste ich als junger Bundestagsabgeordneter über den ersten Kampfeinsatz der Bundeswehr im Kosovo mitentscheiden. In der SPD gab es auf einem Parteitag darüber eine hitzige Diskussion, in der ausgerechnet Erhard Eppler für den Bundeswehreinsatz geworben hat. Sein Argument, dass es politische Situationen gibt, in denen man größere Schuld auf sich lädt, wenn man tatenlos zuschaut, wie Menschen ermordet werden, hat mich überzeugt. Verantwortungsethik heißt also: Wir sind nicht nur dafür verantwortlich, was wir tun, sondern auch für das, was wir unterlassen.
Heute wird darüber diskutiert, ob die Bundesrepublik eher "kriegstüchtig" werden müsse, so Verteidigungsminister Boris Pistorius, oder eher "friedenstüchtig", wie es kürzlich Altbundeskanzlerin Angela Merkel unterstrich. Welche Vokabel ziehen Sie vor?
Heil: Ich sage: Wer heute den Frieden will, muss wehr- und verteidigungsfähig sein. Putins Überfall auf die Ukraine hat die europäische Friedensordnung zerstört - das ist die Zeitenwende. Davor galt seit Willy Brandt und Helmut Schmidt: Grenzen dürfen in Europa nicht mit militärischer Gewalt verschoben werden. Gleichzeitig führt die Politik von Donald Trump dazu, dass wir uns - was unsere Sicherheit und unsere Freiheit betrifft - auf die USA dauerhaft nicht mehr verlassen können.
Daher müssen wir zwangsläufig mehr in unsere eigene Wehrhaftigkeit investieren. Das ist überhaupt kein Widerspruch zur Diplomatie. Wir alle wollen Frieden, und der wird sich am Ende nicht auf dem Schlachtfeld, sondern in Verhandlungen ergeben. Aber wir müssen jetzt die Ukraine weiter unterstützen, damit kein diktatorischer Scheinfrieden entsteht, der letztlich zu neuen Kriegen und neuem Unrecht führen würde. Der gewalttätige Imperialismus Putins darf nicht unterschätzt werden.
"Nicht die Debatten sind das Problem, sondern eher die Art, wie wir sie führen oder nicht führen."
Was können die Kirchen zum Frieden beitragen? Haben sie überhaupt irgendeinen Einfluss, oder sind die Friedensbitten und Gebete nur symbolisch?
Heil: Niemand sollte Gebete und Friedenssehnsucht verächtlich machen. Und der Vatikan etwa hat sich auch ganz praktisch in die Lösung vieler internationaler Konflikte eingeschaltet. Zudem können in Deutschland kontroverse und differenzierte Debatten innerhalb der Kirche über Fragen von Krieg und Frieden einen Beitrag zur Verständigung leisten.
Ihre Parlamentskollegin, Bundestagspräsidentin Julia Klöckner, hat die Kirchen gemahnt, sich stärker um das Eigentliche zu kümmern und nicht zu allen möglichen Themen Statements abzugeben. Sie haben dem widersprochen und erklärt, eine stumme Kirche sei eine dumme Kirche. Täte nicht Ihrer SPD gut, etwas stummer zu werden und nicht alles infrage zu stellen, was die in der Regierung befindlichen Mitglieder so wollen? Nach dem letzten SPD-Parteitag ist Ihre Partei in den Umfragen noch stärker nach unten gerutscht …
Heil: Geschlossenheit ist am Ende wichtig. Allerdings sind Diskussionen um den richtigen Weg in einer demokratischen Partei wie der SPD nicht nur möglich, sondern lebensnotwendig. Man darf ihnen als Parteiführung auch nicht ausweichen. Nicht die Debatten sind das Problem, sondern eher die Art, wie wir sie manchmal führen oder nicht führen. Richtig ist aber, dass die SPD als Partei in Regierungsverantwortung Debatten nicht nur führt, sondern sie am Ende auch klar entscheiden muss. Bei essenziellen Fragen wie etwa der Sicherheitspolitik darf es keinen Zweifel darüber geben, für welchen Kurs wir stehen.