Hannover, Hermannsburg (epd). Ein weiterer Fall von sexualisierter Gewalt und spirituellem Missbrauch erschüttert die Evangelisch-lutherische Landeskirche Hannovers. Im Zentrum steht dabei der durch sein charismatisches Auftreten überregional bekannte evangelische Pastor V. (1930-2011), der in Hermannsburg bei Celle 1977 eine geistliche Bruderschaft gründete und sie über viele Jahre leitete. „Er hat seine Autorität als geistlicher Leiter und seine Stellung als Seelsorger systematisch dazu genutzt, um mindestens gegenüber elf Personen sexuell übergriffig zu werden“, sagte der Kirchenrechtler Walther Rießbeck am Dienstag in Hannover. Darunter seien zwei Minderjährige gewesen. Landesbischof Ralf Meister bat die Betroffenen im Namen der Landeskirche um Entschuldigung.
Gemeinsam mit drei anderen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern stellte Rießbeck eine Studie zu dem Fall vor. Die Kommission, die vor drei Jahren von der Landeskirche mit dem Bericht beauftragt worden war, kritisierte dabei auch Versäumnisse der Kirche bei der Aufarbeitung. Die Studie nimmt erstmals spirituellen Missbrauch als Ursache für sexualisierte Gewalt in den Blick. Pastor V. habe in mindestens fünf Fällen nach damaligem Recht Straftaten begangen, sagte der Jurist Georg Gebhardt, Vizepräsident des Landgerichts Hildesheim, als Mitglied der Kommission.
Die Kommission schilderte die von V. gegründete Bruderschaft „Kleine Brüder vom Kreuz“ als hierarchische Gemeinschaft von Männern, die sich nach außen abschottete. „Die große Sehnsucht nach Sinn und Orientierung, die viele junge Menschen mitbrachten, schien bei ihm Erfüllung zu finden“, sagte die Psychotherapeutin Susanne Hilbig. „Doch das Verhältnis war emotional und strukturell nicht gleichberechtigt.“ Frauen seien abgewertet worden. Oft seien junge Männer gedrängt worden, ihre Partnerinnen zu verlassen. „V. nutzte als wesentlich älterer Mann Nähe auf verführende Weise“, sagte Hilbig. „In diesem Klima konnte der Machtmissbrauch lange nicht benannt werden.“
Die Vorgesetzten des Pastors hätten lange nicht gewusst, was sich in der abgeschotteten Bruderschaft abspielte, die ihr Zentrum auf einem Hof bei Hermannsburg hatte, sagte Rießbeck. „Kritisch zu bemerken ist aber, dass man den Pastor, dessen Eigenwilligkeit bekannt war, weitgehend gewähren ließ.“
Gravierende Versäumnisse habe es aber gegeben, nachdem ab 2017 in der nun zur „Geschwisterschaft“ umbenannten Gemeinschaft allmählich Zweifel an dem inzwischen verstorbenen V. laut geworden waren. So sei die Mail eines Betroffenen, der sich im Mai 2019 für eine Aufarbeitung angeboten habe, von einer kirchenleitenden Person fehlerhaft weitergeleitet worden und dann drei Jahre lang unbeachtet geblieben. Als die Mail 2022 wieder auftauchte, habe es die Kirchenleitung versäumt, persönlich Kontakt zu dem Mann aufzunehmen. Auch hätte die Landeskirche alarmiert sein müssen, als die Gemeinschaft 2018 eine eigene Aufarbeitung startete.
Landesbischof Meister versicherte, dass die Kirche inzwischen in Kontakt mit dem Betroffenen stehe. Ein persönliches Gespräch sei bereits vereinbart. Gegen die kirchenleitende Person laufe seit drei Jahren ein Disziplinarverfahren. „Dieser Bericht offenbart theologische und menschliche Abgründe, die sich in unserer Kirche ereignet haben und die im Widerspruch stehen zu dem Auftrag, den sie empfangen hat“, sagte Meister. Pastor V. und seine Gemeinschaft hätten wie ein „Staat im Staate“ agiert. Bischöfe hätten V. zeitweise nicht nur geduldet, sondern ermutigt und unterstützt. Sexualisierte und spirituelle Gewalt und Machtmissbrauch seien tief in der Kirche verankert, sagte Meister. „Dem müssen wir uns stellen.“
Nach Angaben der Kommission hatte sich ein ehemals minderjähriger Betroffener bereits Anfang der 2000er-Jahre an zwei Pastoren innerhalb der Bruderschaft gewandt und von seinen Erlebnissen berichtet. „Sie haben dieses Wissen über einen schweren Missbrauch für sich behalten“, sagte der Kirchenrechtler Rießbeck. Die Kommission schlug vor, gegen diese beiden ihr namentlich bekannten Pastoren ein Disziplinarverfahren zu eröffnen. Die Landeskirche werde dies prüfen, sagte der Präsident des Landeskirchenamtes, Jens Lehmann: „Wir müssen den Ursachen dieses Handeln unmissverständlich und zweifelsfrei auf den Grund gehen.“