Wachsende Zahl an Pflegebedürftigen stellt System auf die Probe

Wachsende Zahl an Pflegebedürftigen stellt System auf die Probe
Die Zahl der pflegebedürftigen Menschen in Deutschland wächst schnell, auch unter jüngeren Menschen. Oft haben sie großen Beratungsbedarf. Der Medizinische Dienst Bund hält Reformen für dringend nötig, um die Situation im Griff zu behalten.

Berlin (epd). Mehr als fünfeinhalb Millionen Menschen in Deutschland sind pflegebedürftig - Tendenz steigend. Das zeigen am Donnerstag vorgestellte Zahlen des Medizinischen Dienstes Bund. Die Entwicklung bedeutet auch mehr Arbeit für die Fachleute der Medizinischen Dienste, die für die Einstufung in die Pflegegrade zuständig sind. Sie wünschen sich für ihre Arbeit mehr Flexibilität und digitale Unterstützung.

Dem erstmals vorgelegten „Report Pflegebedürftigkeit“ zufolge erhielten im vergangenen Jahr 5,64 Millionen Menschen Leistungen der Pflegeversicherung. Fünf Jahre zuvor hatte die Zahl bei lediglich vier Millionen gelegen, im Jahr 2014 sogar nur bei 2,67 Millionen. Immer öfter würden auch jüngere Menschen unter 60 Jahren als pflegebedürftig eingestuft, sagte die stellvertretende Vorstandsvorsitzende des Medizinischen Dienstes Bund, Carola Engler. Grund sind Engler zufolge die 2017 geänderten Kriterien für Pflegebedürftigkeit. Seither werden psychische und kognitive Beeinträchtigungen bei der Frage der Pflegebedürftigkeit stärker berücksichtigt.

Für die Begutachtung der Versicherten sind die Medizinischen Dienste in den Ländern im Auftrag der Krankenkassen zuständig. Der Medizinische Dienst Bund koordiniert deren Zusammenarbeit. Die Gutachterin oder der Gutachter sei oft „die erste professionelle Ansprechperson“ zum Thema Pflege für Betroffene und Angehörige, sagte Tatjana Hardes vom Medizinischen Dienst Westfalen-Lippe auf der Pressekonferenz. Deshalb sei es so wichtig, die Pflegebedürftigen in ihrer individuellen Situation „abzuholen“ und umfassend zu beraten.

Die Präsidentin des Sozialverbands VdK, Verena Bentele, bestätigte das mit Verweis auf eine Umfrage unter VdK-Mitgliedern. Die Angebote der Pflegeversicherung würden oft als „unübersichtlich, komplex und auch missverständlich“ bewertet. Bentele kritisierte zudem, dass durch die wachsende Zahl der Betroffenen und den gleichzeitigen Fachkräftemangel manche Versicherte länger auf die Begutachtung und damit auch auf Pflegeleistungen warten müssten.

Engler forderte unter anderem, die Gutachterinnen und Gutachter sollten leichter als bisher zwischen Beratung zu Hause, am Telefon und per Videokonferenz wählen können. Auch bräuchten sie Zugriff auf die elektronische Patientenakte (ePA), um die medizinische Gesamtsituation schneller einschätzen zu können.

Der weitaus größte Teil aller Pflegebedürftigen wird den Daten zufolge im häuslichen Umfeld versorgt. Gerade die Pflegebedürftigen ohne professionelle Unterstützung müssten in den Fokus gerückt werden, forderte Engler. Die Begutachtungen sollten „viel stärker als bisher auf die kompletten Lebenswelten“ der Versicherten ausgerichtet werden. So könne ein gewisser Grad an Selbstständigkeit länger erhalten werden.

Engler forderte die Politik auf, im Bereich Pflege neben einer Stabilisierung der Finanzen auch „nachhaltige Reformen und strukturelle Weiterentwicklungen“ anzugehen, um die Versorgung der „Pflegebedürftigen von morgen“ zu sichern. Wenn die Probleme des Systems nicht gelöst würden, drohe ein „Vertrauensverlust“, warnte sie.