Frankfurt a.M. (epd). Judenfeindliche Überzeugungen sind in der deutschen Gesellschaft laut dem baden-württembergischen Antisemitismus-Beauftragten Michael Blume weit verbreitet. Am häufigsten erlebten Jüdinnen und Juden eine Täter-Opfer-Umkehr und eine Schuldumkehr, sagte Blume am Mittwoch dem Evangelischen Pressedienst (epd). Sie würden dabei für die Politik der israelischen Regierung verantwortlich gemacht, obwohl sie meist gar keine israelischen Staatsbürger seien und oft selbst etwa der Kriegsführung in Gaza kritisch gegenüberstünden.
Zudem werde unterschlagen, dass Israel 2005 den Gaza-Streifen geräumt und die Hamas am 7. Oktober 2023 den aktuellen Krieg mit einem Terrormassaker eröffnet habe und immer noch Geiseln halte. Blume beklagte eine mangelnde Solidarität mit Jüdinnen und Juden. „Gerade auch eher linksorientierte und etwa studierende Jüdinnen und Juden erleben oft eine Entsolidarisierung, wenn plötzlich etwa auch sexualisierte Gewalt gegen Frauen und Kinder als vermeintlicher 'Widerstand' verharmlost wird“, sagte er.
Seit dem Überfall der Terrororganisation Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 sind Jüdinnen und Juden vermehrt antisemitischen Anfeindungen, Bedrohungen und Angriffen ausgesetzt. Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (Rias) trug in ihrem am Mittwoch in Berlin vorgestellten Bericht für das Jahr 2024 gut 8.600 Vorfälle zusammen, 77 Prozent mehr als 2023. Der Bericht zeigt, dass viele Vorfälle dem israelbezogenen und Post-Schoah-Antisemitismus zuzuordnen sind. Darunter fallen auch Aussagen, die Parallelen zum Nationalsozialismus ziehen, oder relativierende Aussagen über den Holocaust.
Diese Überzeugungen seien aus unterschiedlichen Motiven weit verbreitet, sagte Blume. „Viele Ältere hegen Schuldkomplexe und versuchen sich dann durch NS-Gleichsetzungen zu entlasten. Und viele Jüngere informieren sich vor allem über TikTok und fallen dort auf hetzerische Propaganda herein.“ Der digitale Antisemitismus, in dem sich die verschiedensten, judenfeindlichen Strömungen vermischten, dominiere ganz klar, sagte Blume.
Nur sehr wenige Menschen in Deutschland - unabhängig vom Alter - hätten den enormen Unterschied zwischen persönlicher Schuld und gesellschaftlicher Verantwortung bedacht. „Bei Schuld geht es ja um die eigene Vergangenheit, Verantwortung lernt dagegen aus der Geschichte für die gemeinsame Zukunft.“