"Gnade": Ein Film über Schuld und wie wir damit umgehen

Foto: Alamonde Film/Jakub Bejnarowicz
Henry Stange als Markus in "Gnade"
"Gnade": Ein Film über Schuld und wie wir damit umgehen
Der Film "Gnade" von Mathias Glasner läuft ab dem 18. Oktober im Kino
"Es ist keine Reise" erklärt Maria ihrer Freundin. "Wir gehen weg. Zusammen. Es ist eine Chance und wir brauchen eine zweite Chance."
18.10.2012
Martin Schwickert

Um die Liebe zwischen Maria und ihrem Mann Niels (Jürgen Vogel) ist es schlecht bestellt. Gemeinsam mit ihrem Sohn Markus (Henry Stange) wandern sie ins nördlichste Norwegen aus und haben die vage Hoffung, dass sie am Rande des Eismeeres wieder zueinander finden. Niels hat einen Job in einer Erdgas-Raffinerie und Maria findet eine Arbeit als Pflegerin in einem Hospiz. Nach ein paar Monaten sind die alten, lieblosen Strukturen jedoch wieder hergestellt: Niels hat eine Affäre mit einer Arbeitskollegin, Maria flüchtet sich in Doppelschichten, Markus kann in der Schule keine richtigen Freunde finden und die Dunkelheit der Polarnacht nistet sich in den Gemütern ein.

Aber dann läuft Maria auf dem Heimweg von der Arbeit etwas vors Auto. Ob Tier oder Mensch konnte sie nicht erkennen und sie fährt weiter nach Hause, wo Gewissensbisse sie nicht schlafen lassen. Als Niels zum Unfallort fährt, kann er im verwehten Schnee keine Spuren finden. Am anderen Tag wird klar, dass es ein 16jähriges Mädchen war, das, nachdem es angefahren wurde, in der eisigen Nacht erfroren ist. "Ich bin das nicht. Ich bin nicht dieser Mensch" sagt Maria zu Niels und bittet ihn, ihre Fahrerflucht zu verschweigen, weil sie Angst davor hat, in dem kleinen Ort an den Pranger gestellt zu werden.

Die Beule am Auto wird ausgebessert, der Kotflügel neu lackiert und die polizeilichen Ermittlungen verlaufen im Sande. Aber das schlechte Gewissen bleibt und wie das nagende Gefühl der Schuld zwei Menschen und ihre Beziehung zueinander verändert, das zeigt Matthias Glasner in seinem neuen Film "Gnade" mit geradezu atemberaubender Präzision.

Gerechtigkeit, Schuld, Gnade - große Begriffe werden emotional verhandelt

Das gemeinsame Verschweigen schweißt das zerrüttete Ehepaar allmählich wieder enger zusammen. Wer sich schuldig fühlt, für den ist die Außenwelt eine allgegenwärtige Bedrohung und der vertraute Partner der einzige Halt. Aber es ist nicht nur die Komplizenschaft, sondern die extreme emotionale Erfahrung, die die beiden verbindet. Dennoch können die neu entstehenden Gefühle das Gewissen nicht ausschalten. Maria, die sich durch ihre Arbeit im Hospiz täglich als guter Mensch beweisen kann, gelingt die Verdrängung besser als dem moralisch weniger gefestigten Niels, der keinen Umgang mit seiner Schuldverstrickung findet.

In dem Vergewaltigerporträt "Der freie Wille" und in "This is Love", der das Thema Pädophilie untersuchte, hat Matthias Glasner sein Faible für sperrige Filmstoffe bewiesen. In "Gnade" befreit er sich nun von allen Tabubruchallüren, behält aber die Unnachgiebigkeit bei, mit der er in all seinen Filmen den menschlichen Gefühlen auf den Grund geht. Mit Birgit Minichmayr und Jürgen Vogel hat er zwei Schauspieler gefunden, die sich der Kamera kompromisslos öffnen und das innere Drama ihrer Figuren präzise darstellen.

An den genau gearbeiteten Dialogen ist kein Gramm zuviel, die Bilder aus den unwirklichen Polarlandschaften verstärken die Eindringlichkeit und in der Mitte des Films trifft ein einfacher A-Capella-Gesang genau ins Herz. Gerechtigkeit, Schuld, Gnade: Es sind große, moralische Begriffe, die hier ebenso analytisch wie hochemotional verhandelt werden – ein Drahtseilakt, der Glasner überraschend unangestrengt gelingt und "Gnade" zum interessantesten deutschen Film in diesem Kinoherbst macht.