EKD plant Studie zu sexualisierter Gewalt und Reformpädagogik

EKD plant Studie zu sexualisierter Gewalt und Reformpädagogik
Netzwerk um Sexualwissenschaftler Helmut Kentler im Blickpunkt
Pädagogen rund um den Sexualforscher Helmut Kentler versuchten seit den 1960er Jahren, die Sexualität von Tabus zu befreien. Sexualisierte Gewalt an Kindern sei dabei jedoch verharmlost worden, sagt die evangelische Kirche heute.

Hannover, Hildesheim (epd). Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) will mit einer eigenen Studie die Verharmlosung von sexualisierter Gewalt an Kindern und Jugendlichen in den Diskussionen der Sexual- und Reformpädagogik ab den 1960er-Jahren näher beleuchten. Diese Diskurse hätten auch im Raum der Kirche stattgefunden, sagte eine EKD-Sprecherin am Freitag auf Anfrage des Evangelischen Pressedienstes (epd). Im Fokus der Studie stehe dabei neben anderen Personen der Sexualwissenschaftler Helmut Kentler (1928-2008). Auch Hildesheimer Wissenschaftler forschen zu dem Psychologen und Pädagogen.

Kentler war vor seiner Hochschul-Karriere als Professor an der Universität Hannover bei Einrichtungen der evangelischen Kirche beschäftigt und auch später bei Veranstaltungen der Kirche aktiv. Er galt bundesweit als einer der prägenden Experten in Sachen Sexualerziehung. Die EKD plant laut der Sprecherin zunächst eine Vorstudie, die demnächst bei externen Fachleuten in Auftrag gegeben werden soll. Sie soll Fragestellungen und Quellen klären.

Sexual- und reformpädagogische Diskurse, die eine Abkehr von hierarchischer Pädagogik und konservativer Sexualmoral ab den 1960er Jahren in der Gesellschaft zum Ziel hatten, seien auch genutzt worden, um sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen zu verharmlosen und zu legitimieren, sagte die EKD-Sprecherin. Solche Entgrenzungen im Diskurs seien ein wesentlicher Hintergrundfaktor für Fälle von sexualisierter Gewalt auch in der Jugendarbeit der evangelischen Kirche und daher Teil der systematischen institutionellen Aufarbeitung.

Wissenschaftler der Universität Hildesheim beschäftigen sich zurzeit mit Helmut Kentler und beleuchten in einer eigenen Studie besonders sein Wirken in der Berliner Kinder- und Jugendhilfe. Unter anderem soll Kentler sozial auffällige Jugendliche in die Obhut von pädophilen Männern vermittelt haben. Der Pädagoge soll auch selbst schutzbefohlene Jungen aus prekären Verhältnissen, die zur Resozialisierung bei ihm untergebracht waren, regelmäßig sexuell missbraucht haben.

Ein Zwischenbericht zu der Studie schildert anhand eines Betroffenen-Interviews, dass ein Netzwerk pädosexueller Männer rund um Kentler auch in die evangelische Kirche hineinreichte. Diese hätten sich dort als „unterdrückte Minderheit“ stilisiert und sich als „die Guten“ dargestellt. Die betroffene Person berichtete, dass sie selbst missbraucht worden sei. Sie habe sich selbst damals als benachteiligt erlebt, dies hätten die Männer ausgenutzt. Unter dem Deckmantel der Fürsorge sei es primär um sexualisierte Gewalt und Ausbeutung gegangen.

Helmut Kentler war Anfang der 1960er-Jahre Jugendbildungsreferent bei der Evangelischen Akademie Arnoldshain in Hessen und dann von 1962 bis 1965 pädagogischer Referent des Studienzentrums für evangelische Jugendarbeit in Josefstal am Schliersee in Bayern. Von 1976 bis 1996 lehrte er Sonderpädagogik an der Universität Hannover. Kentler war oft zu Gast bei Kirchentagen und hielt Vorträge in Evangelischen Akademien wie Loccum in Niedersachsen oder Tutzing in Bayern.