Ein halbes Jahrhundert Abtreibungsstreit in den USA

Ein halbes Jahrhundert Abtreibungsstreit in den USA

Washington (epd). In den USA hat der Oberste Gerichtshof den Weg für Abtreibungsverbote in den Bundesstaaten freigemacht. Mit einer am Freitag veröffentlichten Entscheidung hoben die Richterinnen und Richter ein Grundsatzurteil aus dem Jahr 1973 auf, welches das Recht auf Abtreibung gewährt hatte. Der Streit über das Recht auf Abtreibung in den USA währt bereits seit 50 Jahren. Eine Chronologie:

  • 22. Januar 1973: Mit sieben zu zwei Stimmen erklärt das Oberste US-Gericht das Abtreibungsverbot im Bundesstaat Texas für verfassungswidrig. Das als „Roe v. Wade“ bekannte Urteil setzt Antiabtreibungsgesetze landesweit außer Kraft. Das Verfassungsrecht auf Privatsphäre beinhalte das Recht einer Frau, über ihre Schwangerschaft zu bestimmen. Das Urteil sei erschreckend, protestieren römisch-katholische Kardinäle.

Die 22-jährige Texanerin Norma McCorvey, die ihre Schwangerschaft beenden wollte, hatte unter dem Namen Jane Roe gegen das Gesetz geklagt, das Abtreibungen nur gestattete, wenn das Leben der Schwangeren in Gefahr ist. Zum Zeitpunkt des Urteils hatte McCorvey ihr Kind zur Welt gebracht und zur Adoption freigegeben.

  • 22. Januar 1974: Abtreibungsgegner veranstalten den ersten „Marsch für das Leben“ in der US-Hauptstadt Washington. Die katholisch und evangelikal geprägte Kundgebungen mit Zehntausenden Teilnehmerinnen und Teilnehmern finden seitdem alljährlich statt.
  • 30. September 1976: Der US-Kongress beschließt das Hyde-Amendment-Gesetz. Es verbietet die Verwendung staatlicher Mittel für Schwangerschaftsabbrüche. Hyde gilt als erster großer Erfolg der Abtreibungsgegner und ist noch heute in Kraft.
  • 4. November 1980: Der Republikaner Ronald Reagan wird zum Präsidenten gewählt mit Unterstützung von Abtreibungsgegnern. Im Gegensatz zum Demokraten Jimmy Carter fordert Reagan einen Verfassungszusatz zum Verbot der Abtreibung. Von da an gelten Republikaner als Abtreibungsgegner und Demokraten als Befürworter legaler Abtreibung. Zum Zusatz kommt es nicht. Reagan erlässt 1984 die sogenannte „Mexico City Policy“ zur Begrenzung der Familienplanungsberatung im Ausland.
  • 29. Juni 1992: Mit fünf zu vier Stimmen bestätigt das Oberste Gericht „Roe v. Wade“, urteilt jedoch, dass die fünfzig Bundesstaaten Zugang zum Schwangerschaftsabbruch behindern dürfen, so lange Restriktionen keine „unzumutbare Belastung“ darstellen. Seitdem haben zahlreiche Staaten Beschränkungen beschlossen, darunter Warteperioden und erzwungene Ultraschalluntersuchungen.
  • 10. März 1993: Ein Abtreibungsgegner erschießt den Frauenarzt David Gunn vor einer Klinik in Pensacola in Florida. Nach Angaben des Verbandes National Abortion Federation haben Abtreibungsgegner von 1993 bis 2015 zwölf Ärzte, Klinikmitarbeiterinnen und Sicherheitspersonal ermordet.
  • 8. November 2016: Donald Trump wird zum Präsidenten gewählt. Zahlreiche Abtreibungsgegner stimmten für Trump in der Erwartung, er werde das Oberste Gericht umbesetzen, um „Roe v. Wade“ zu kippen.
  • 21. Januar 2017: In der größten Kundgebung der Geschichte der US-Hauptstadt demonstrieren am Tag nach Trumps Amtseinführung Hunderttausende in Washington beim „Women's March“ gegen den neuen Präsidenten und für das Recht auf Abtreibung.
  • 26. September 2020: Trump nominiert mit der konservativen Juristin Amy Coney Barrett eine dritte Richterin zum Obersten Gericht. Gegner und Befürworter legaler Abreibung gehen davon aus, dass gegen „Roe v. Wade“ eingestellte Richterinnen und Richter nun die Mehrheit haben im Obersten Gericht.
  • 1. Dezember 2021: Das Oberste Gericht befasst sich mit der Verfassungsmäßigkeit eines Anti-Abtreibungsgesetzes in Mississippi („Dobbs v. Jackson Women’s Health“). Das Gesetz sieht ein Verbot von Abtreibungen nach der 15. Schwangerschaftswoche vor. Mehrere Staaten haben ähnlich weitreichende Gesetze geschrieben, um „Roe v. Wade“ zu testen. Texas will Abtreibungen nach der sechsten Woche verbieten.
  • 2. Mai 2022: Das Magazin „Politico“ publiziert den geleakten Entwurf des Urteils zu „Dobbs“. Er legt nahe, dass „Roe v. Wade“ kippen könnte. Familienplanungsverbände erwarten, dass etwa die Hälfte der Staaten Abtreibung stark begrenzen oder vielleicht ganz verbieten würde, sollte das Urteil so ausfallen wie der Entwurf.
  • 24. Juni 2022: Das Oberste Gericht der USA hebt das Grundsatzurteil „Roe v. Wade“ auf. Damit haben die Bundesstaaten die Möglichkeit, schärfere Abtreibungsverbote zu erlassen. Organisationen für Familienplanung erwarten, dass etwa die Hälfte der Staaten Abtreibungen verbieten oder stark einschränken.