Im Schnitt 49 minderjährige Opfer sexualisierter Gewalt pro Tag

Im Schnitt 49 minderjährige Opfer sexualisierter Gewalt pro Tag
Die Zahl der Kinder, die Opfer sexualisierter Gewalt werden, steigt weiter. Ob es tatsächlich mehr Opfer gibt oder der Anstieg wegen besserer Ermittlungen zustande kommt, kann das BKA dabei nicht sagen. Das Dunkelfeld bleibt eine Unbekannte.

Berlin (epd). Im vergangenen Jahr sind nach Erkenntnis der Ermittlungsbehörden mehr als 17.700 Kinder und Jugendliche in Deutschland Opfer sexualisierter Gewalt geworden. Das seien im Durchschnitt 49 minderjährige Opfer pro Tag, sagte der Präsident des Bundeskriminalamts, Holger Münch, am Montag in Berlin. Gemeinsam mit der Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung, Kerstin Claus, präsentierte er eine Sonderauswertung der Polizeilichen Kriminalstatistik mit Detailangaben zur Gewalt an Kindern. Demnach wurden 17.704 unter 14-Jährige im vergangenen Jahr Opfer von Missbrauch. 2.281 von ihnen waren jünger als sechs Jahre.

Laut der bereits Anfang April veröffentlichten Gesamtstatistik des Bundeskriminalamts wurden 2021 rund 15.500 Fälle sexuellen Missbrauchs von Kindern gemeldet. Das entspricht einem Anstieg von 6,3 Prozent. Mehr als verdoppelt haben sich im vergangenen Jahr entdeckte Fälle von Verbreitung, Erwerb, Besitz oder Herstellung sogenannter kinderpornografischer Schriften. 39.171 derartige Fälle registrierte die Polizei (2020: 18.761). Die Zahl der Fälle von Verbreitung oder Besitz jugendpornografischer Schriften stieg auf 5.105 (2020: 3.107).

Seit einigen Jahren gelingt es der Polizei mit Hilfe des US-amerikanischen National Center of Missing and Exploited Children (NCMEC) mehr Licht in das vermutlich große Dunkelfeld von Kindesmissbrauch zu bringen. Das NCMEC übermittelt bei entdeckten Delikten mit Tatort in Deutschland Daten an das Bundeskriminalamt (BKA). Münch zufolge gab es allein 2021 mehr als 62.000 Hinweise auf strafrechtliche relevante Fälle von sexualisierter Gewalt oder Missbrauchsdarstellungen.

Claus sagte, die Zahl der Fälle sei erschreckend, aber durchaus zu erwarten gewesen. Sie beklagte, dass durch das unbekannte Ausmaß des Dunkelfelds nicht gesagt werden könne, ob die Zahl der Fälle tatsächlich steige oder der Anstieg der Fallzahl in erfolgreicheren Ermittlungen gründe. Sie erneuerte ihre Forderung nach mehr Erforschung des Dunkelfelds. Die derzeitigen Zahlen bildeten das tatsächliche Ausmaß von sexualisierter Gewalt nicht ab, sagte die unabhängige Beauftragte für Fragen sexuellen Kindesmissbrauchs.

Münch beklagte derweil, dass die Arbeit der Ermittler durch Vorratsdatenspeicherung erfolgreicher sein könnte. Allein im vergangenen Jahr hätten rund 2.100 strafrechtlich relevante Hinweise nicht ausermittelt werden können, weil die IP-Adresse der einzige Ansatz gewesen sei. Wegen der ausgesetzten Vorratsdatenspeicherung seien diese Adressen nicht gespeichert gewesen. Für die vergangenen fünf Jahre bezifferte Münch die Zahl der Fälle, deren Aufklärung an nicht gespeicherten Daten scheiterte, auf mehr als 19.000. Damit könnten Kinder nicht oder nur mit erheblichem Zeitverzug davor bewahrt werden, erneut Opfer von schwerer sexualisierter Gewalt zu werden, sagte der BKA-Präsident.

Claus forderte, in der Diskussion um gesetzliche Regelungen neben berechtigten Sorgen um die Freiheit im Netz das Ziel nicht aus dem Blick zu verlieren. Das sei der Schutz von Kindern, sagte sie. Die Missbrauchsbeauftragte begrüßte den Vorstoß der EU-Kommission, die Internetdienstleister verpflichten will, aktiv nach Missbrauchsdarstellungen zu suchen. Deutsche Behörden profitierten vom US-amerikanischen NCMEC, weil dort Provider aktiv suchten, sagte sie.

Die Pläne der EU sorgen bei Datenschützern für heftige Kritik. Sie fürchten eine Massenüberwachung privater Kommunikation. Claus kündigte an, sich mit dem Bundesdatenschutzbeauftragten Ulrich Kelber zum Gespräch zu treffen. Auch Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) hatte sich skeptisch zu einer anlasslosen Überwachung von Messengerkommunikation geäußert. Am Montag erklärte sie, man werde „europäische Instrumente schaffen, um Onlineplattformen in die Pflicht zu nehmen, damit Missbrauchsdarstellungen entdeckt, gelöscht und die Täter verfolgt werden“. Um die Stärkung der Ermittlungen gegen Missbrauch an Kindern soll es nach ihren Worten auch auf der Innenministerkonferenz in dieser Woche in Würzburg gehen.