Oldenburg (epd). Gleich zum Prozessauftakt stellt Richter Sebastian Bührmann klar: „Die Uhren müssen auf null zurückgestellt werden“. Vor dem Landgericht Oldenburg hat am Donnerstag der Prozess gegen sieben Vorgesetzte des Serienmörders Niels Högel begonnen. Die Anklage wirft ihnen vor, dass sie aus Sorge um den Ruf ihres Krankenhauses und ihre eigene Reputation bewusst weggeschaut haben und so zumindest Beihilfe zu den Tötungen geleistet zu haben. Die Verteidigung spricht von ungeheuerlichen und haltlosen Hypothesen. (AZ: 5 Ks 20/16)
Weil das Publikumsinteresse groß ist und die Angeklagten sich von einem Heer von insgesamt 17 Anwältinnen und Anwälten vertreten lassen, ist das Gericht erneut in die Weser-Ems-Halle umgezogen. Dort war auch Högel wegen 85-fachen Mordes an Patienten 2019 zu lebenslanger Haft verurteilt worden.
Das Problem: Die zur Verhandlung stehenden Taten - drei im Klinikum Oldenburg und vier im Krankenhaus Delmenhorst - liegen zum Teil mehr als 20 Jahre zurück. Zwar wurde Högel für diese Taten verurteilt, doch spielt das für den neuen Prozess keine Rolle. „Wir müssen in diesem Verfahren erneut offen ermitteln, ob und wen Högel getötet hat“, sagt Richter Bührmann. Und auch, welche Rolle die Angeklagten dabei gespielt haben, fügt er hinzu.
Die Liste der im Laufe des Prozesses zu vernehmenden Zeugen ähnelt jener aus dem Mordprozess. Zahlreiche Pflegerinnen und Pfleger, Ärztinnen und Ärzte, Pflegedienstleiter und ein Geschäftsführer sollen geladen werden. Dazu ein Toxikologe und Polizisten. Ein wichtiger Zeuge soll schon am 1. März Högel selbst sein. Weil er als narzisstisch und als notorischer Lügner gilt, wird ein psychologischer Gutachter seine Aussagen auf Glaubhaftigkeit prüfen.
In ihren ersten Statements betonen die Anwälte und Anwältinnen die Unschuld ihrer Mandanten. Die Anklage gründe auf „Gerüchten und Mutmaßungen“, nicht auf Beweisen, sagte eine Verteidigerin. Die Hypothesen der Staatsanwaltschaft entbehrten jeder Grundlage. Die Angeklagten hätten sich bewusst für ihre Berufe entscheiden, um Menschen zu helfen und sie zu pflegen.
Ein anderer Verteidiger warnt vor einem „Rückschaufehler“, da man im Nachhinein immer schlauer sei. Das heutige Wissen um die Taten Högels dürfe aber nicht auf die damalige Zeit übertragen werden. Damals sei der Gedanke, ein Arzt oder eine Pflegekraft könne Patienten ermorden, völlig unvorstellbar gewesen. Als der im Publikum sitzende Psychiatrie-Professor Karl H. Beine dies hört, schüttelt er nur verständnislos den Kopf. Er ist seit mehr als 30 Jahren Experte für Tötungsserien in Krankenhäusern.
Eine weitere Anwältin wendet sich an die Schöffen, die als ehrenamtliche Richter und Richterinnen dem Prozess beisitzen. Sie dürften sich nur von dem leiten lassen, was in der Verhandlung gesagt oder bewiesen werde, betont sie. Was in „Volkstheaterstücken“, fragwürdigen TV-Dokumentationen, der Literatur oder der Presse veröffentlicht werde, dürfe für ihre Urteilsfindung keine Rolle spielen.
Als Staatsanwältin Gesa Weiß mit ruhiger Stimme die Anklageschrift verliest, ist es absolut still im Saal. Allen sieben Angeklagten sei von bestimmten Zeitpunkten an klar gewesen, dass von Högel eine Gefahr für die Patienten ausgehe, sagt sie. Die Angeklagten hätten die Morde an Patientinnen und Patienten mit „an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ verhindern können, wenn sie Högel vom Dienst freigestellt oder die Polizei eingeschaltet hätten.
Der Ex-Krankenpfleger Högel war am 6. Juni 2019 vom Oldenburger Landgericht wegen insgesamt 85 Morden im Klinikum Oldenburg und dem Krankenhaus Delmenhorst zu einer lebenslangen Haft verurteilt worden. Außerdem wurde die besondere Schwere der Schuld festgestellt. (AZ: 5 Ks 1/18). Schon zuvor war Högel in mehreren Prozessen verurteilt worden. Insgesamt wurden ihm 91 Tötungen nachgewiesen. Der Prozess wird am 1. März fortgesetzt.