Bitteres Wasser

Menschen in der Wüste
©David Emrich/Unsplash
Zuversichtsbrief, Woche 93
Bitteres Wasser
Die Coronakrise erinnert an die Wüstenzeit des Volkes Israel. Man wandert von einer Katastrophe zur nächsten. Trotzdem steckt Zuversicht in diesen Texten, sagt Frank Muchlinsky in seinem 93. Zuversichtsbrief.

Mose ließ die Israeliten vom Schilfmeer aufbrechen. Sie zogen hinaus in die Wüste Schur. Schon drei Tage waren sie in der Wüste unterwegs und fanden kein Wasser. Dann kamen sie nach Mara, wo es Wasser gab. Doch sie konnten es nicht trinken, weil es bitter war. Deshalb nannte man den Ort Mara, das heißt: Bitterbrunnen. Das Volk rebellierte gegen Mose und sagte: "Was sollen wir jetzt trinken?" Da schrie Mose zum Herrn, und der Herr zeigte ihm ein Stück Holz. Mose warf es ins Wasser, und dann konnten die Israeliten es trinken.

2. Mose 15,22–25 in der Übersetzung der Basisbibel, hier vorgelesen von Helge Heynold.

Liebe Durstige,

immer mehr wird die sogenannte "Wüstenwanderung" des Volkes Israel nach der Flucht aus Ägypten für mich zu einem Sinnbild für die Pandemie, durch die wir uns bewegen. Die 40 Jahre dauernde Irrfahrt Israels ist mit "Wanderung" deutlich schöngeredet. Es ist eine nicht enden wollende herausfordernde Reise, die letztendlich niemand von denen überlebt, die aus Ägypten aufgebrochen sind. Es sind die wiederkehrenden Motive dieser Reise, die mich in diesen Tagen so besonders berühren: Man ist auf dem Weg in eine bessere Zukunft, aber sobald dieser Weg schwierig wird, beschwert sich das Volk bei Mose. In der Lutherbibel heißt es an diesen Stellen gern: "Das Volk murrte gegen Mose", aber das klingt in meinen Ohren zu verhalten. Es kling nach ungeduldigen Kindern auf dem Rücksitz des Autos, die fragen, wann man endlich ankomme. Die Übersetzung der Basisbibel macht deutlicher, wie die Stimmung im Volk ist: Es "rebelliert". Darin steckt mehr als ungeduldiges Nörgeln. Es ist bedrohlich und potenziell gewalttätig.

Ein weiteres wiederkehrendes Element ist, dass Mose sich in solchen Situationen schreiend, also laut flehend an Gott wendet, der dann dafür sorgt, dass dem Volk so weit geholfen wird, dass es weiter durch die Wüste ziehen kann. Und dann sind da natürlich die Regeln, die Gott seinem Volk gibt, die sie fröhlich aufnehmen, nur um sie dann immer wieder zu brechen. Entsprechend ist die Stimmung auf dieser nicht enden wollenden Reise stets am Schwanken. So wie in der kleinen Episode, die ich für diese Woche ausgesucht habe. Man kommt gerade vom Schilfmeer, wo man nach der Rettung vor den ägyptischen Streitwagen ausgelassen gefeiert, getanzt und gesungen hat. Die Wüste ist beschwerlich. Drei Tage lang finden sie kein Wasser. Als sie schließlich zum Wasser gelangen, ist es ungenießbar. Sie rebellieren gegen ihre Regierung, die sie anscheinend völlig planlos hierhergeführt hat. Tatsächlich erfahren wir kaum, wie Mose sich in der Wüste orientiert. Ich mag den daraus resultierenden Witz, der fragt: "Warum sind die Israeliten 40 Jahre lang durch die Wüste geirrt?" - "Weil Mose – typisch Mann – nie nach dem Weg gefragt hat!"

Aber die Situation ist leider sehr ernst. Das Volk "rebelliert". Wie kann man sich das vorstellen? Sind sie alle, das gesamte Volk, zu Moses Zelt gezogen und haben demonstriert? Oder war es eine Minderheit, die aber umso lauter und aggressiver skandierte? Wir wissen es nicht. Aber die Stimmung ist brenzlig, und das ist kein Wunder, schließlich geht es hier darum, womöglich zu verdursten. Mose schreit zu Gott, und wieder frage ich mich, ob man das wörtlich nehmen sollte. Schreit er sich die Lunge aus dem Hals? Oder ist es lediglich ein lautes Gebet, das er sagt? In jedem Fall werden die Beschwerden nach oben durchgereicht. Und zum Glück kommt die Hilfe immer wieder von oben. Wie auch in dieser Geschichte. Gott sorgt dafür, dass Mose einen Stock findet, den der ins Wasser wirft und es damit trinkbar macht. Auch hier werden keine Details erzählt. Anscheinend trinken die Israeliten alle davon.

Auch hier kann man sich – angesichts der Ähnlichkeiten zu unserer Situation – ausmalen, wie schnell die Israeliten bereit waren, von dem neuen Wasser zu trinken. Haben einige lieber erst anderen zugesehen und abgewartet, was mit ihnen passiert, bevor sie selbst etwas getrunken haben? Haben einige sich vielleicht komplett geweigert, weil sie Mose nicht vertrauen? Sind gar einige verdurstet, weil sie nichts von dem neuen Wasser trinken wollten? Wie haben die Trinkenden auf die "Wasserskeptiker" reagiert, wenn es solche gab? Haben sie sie gedrängt, doch bitte endlich zu trinken?

Letztendlich sind sie weitergezogen, erfrischt durch das Wasser, bis zum nächsten Mal, an dem das Volk das Vertrauen in seine Führung verliert und anfängt zu rebellieren – weil es an Essen mangelt oder an einem sichtbaren Gott, oder weil sie Angst vor dem Neuen haben, das vor ihnen liegt. Man kann die "Wüstenwanderung" als eine Folge von Fehlern, von Umwegen und Rückschlägen lesen. Aber das hieße zu vergessen, dass das Volk Israel eines Tages tatsächlich die Wüste verlassen hat. Dabei spielt es keine große Rolle, dass es die nächste Generation war, die schließlich das Gelobte Land erreichte. Am Ende kamen sie an, weil sie auf der ganzen Reise vor allem eines begriffen hatten, dass sie nur gemeinsam diese Zeit überstehen können. Niemand hätte die Wüste ohne die anderen überstanden. Das Volk Israel wurde hier, was es bis heute ausmacht: eine Gemeinschaft.

Gott tat seinen Teil dazu, dass aus dem umherirrenden Haufen eine Gemeinschaft wurde. Er gab ihnen in der Wüste die Regeln, die sie brauchten, damit ihr Zusammenleben funktionieren konnte. Und nicht zuletzt machte er sich selbst zu ihrem Gott. So sehr sie mit ihm haderten, murrten und Regeln brachen, so haben sie doch anscheinend niemals vergessen, dass sie alle zusammengehören, und das ist es, was diesen Text in meinen Augen zu einem Zuversichtstext macht. Anscheinend kann man selbst in der Wüste und umgeben von Widrigkeiten lernen zusammenzuhalten. Ich bin überzeugt, dass es genau das ist, was wir alle derzeit brauchen: einen Sinn dafür, dass wir die Wüste nur gemeinsam verlassen können.

Darum möchte ich Sie in dieser Woche bitten, einfach ein wenig in "Mara" zu bleiben, in der Oase. Schöpfen Sie Kraft für den weiteren Weg durch die Wüste. Fragen Sie sich möglichst lange nicht, wie lange es noch dauern wird bis zum Land, in dem Milch und Honig fließen, sondern trinken Sie das frische Wasser, das gerade da ist. Und wenn es wieder hinaus in die Wüste geht, lassen Sie uns gemeinsam weitergehen. Tun wir alle, was wir können, um gemeinsam weiterzukommen! Sicherlich finden Sie Ihren persönlichen Beitrag.

Ich grüße Sie sehr herzlich!

Ihr Frank Muchlinsky