Dubai, Kabul (epd). Nach dem schnellen Vormarsch der radikal-islamischen Taliban auf die afghanische Hauptstadt Kabul hat Afghanistans Regierung zum Kampf gegen die Aufständischen aufgerufen. In einer Fernsehansprache an die Nation am Samstag erklärte Präsident Aschraf Ghani, die erneute Mobilisierung der afghanischen Armee habe nun Vorrang. Gleichzeitig wächst der Druck auf Ghani, angesichts der militärischen Gewinne der Taliban zurückzutreten, um Platz für eine Übergangsregierung unter Beteiligung der Aufständischen zu machen.
Die Taliban kontrollieren inzwischen mehr als die Hälfte der 34 Provinzen Afghanistans. Von den Großstädten sind nur noch Kabul, Masar-e-Scharif im Norden des Landes und Dschalalabad an der Grenze zu Pakistans unter der Kontrolle der Regierung. Am Samstag drangen die Taliban bis in die Provinz Kabul, in den Distrikt Char Asiab, nur elf Kilometer südlich der Stadt vor, wie der TV-Sender Tolo News berichtete. Regierungstruppen und Aufständische lieferten sich auch heftige Kämpfe in der Stadt Maidan Schahr, die knapp 40 Kilometer westlich von Kabul entfernt liegt.
Hunderttausende Familien waren in den vergangenen Tagen aus den von den Taliban eroberten Gebieten nach Kabul geflohen. Gleichzeitig trafen die ersten der 3.000 US-Spezialkräfte in der Hauptstadt ein, die die Evakuierung von US-Diplomaten und anderen amerikanischen Staatsbürgern vorbereiten sollen. Auch das Personal der deutschen Botschaft in Kabul soll laut Außenminister Heiko Maas (SPD) auf ein Minimum reduziert werden. Er rief am Freitagabend alle Deutschen in Afghanistan auf, das Land zu verlassen.
Kanadas Premierminister Justin Trudeau kündigte an, sein Land wolle 20.000 besonders gefährdete Afghaninnen und Afghanen aufnehmen. Mit der Rückkehr der Taliban müssen Menschenrechtsaktivisten, Frauenrechtlerinnen, Medienschaffende und andere Gruppen um ihr Leben fürchten.
Am Samstag fiel auch die Provinz Logar, im Süden von Kabul, ganz in die Hände der Taliban. Auch um Masar-e-Scharif im Norden, das von den Taliban inzwischen eingekesselt ist, gingen die Kämpfe weiter. In den von den Aufständischen besetzten Gebieten häufen sich Berichte über Kriegsverbrechen. Die Vereinten Nationen appellierten am Freitag an die Nachbarländer Afghanistans, ihre Grenzen für Bürgerkriegsflüchtlinge offenzuhalten.
Seit dem Abzug nahezu aller internationalen Truppen Anfang Mai eroberten die Taliban in schneller Geschwindigkeit große Teile Afghanistans. Die afghanische Armee kann ihnen kaum etwas entgegensetzen. Verhandlungen zwischen der Regierung und den Taliban in katarischen Doha brachten in dieser Woche keinerlei nennenswerten Ergebnisse. Der US-Verhandlungsführer Salmai Khalilzad drohte den Aufständischen mit internationaler Ächtung, sollten sie Afghanistan gewaltsam einnehmen. Das Taliban-Regime zwischen 1996 und 2001 in Afghanistan war international ebenfalls nicht anerkannt, wurde aber von Pakistan unterstützt.
Ende August wollen die USA ihren Militäreinsatz in Afghanistan nach fast 20 Jahren ganz beenden. Fast alle Militärbasen sind bereits an die afghanische Armee übergeben worden. Die letzten deutschen Soldaten kehrten im Juni zurück.