Brüssels grüne Großbaustelle

Brüssels grüne Großbaustelle
Anderthalb Jahre nach Start des Green Deal stehen neue Wegmarken an
Er war das Vorzeigeprojekt von Ursula von der Leyens EU-Kommission, als sie Ende 2019 ihr Amt antrat. Dann kam die Corona-Pandemie. Was ist aus dem europäischen Grünen Deal geworden?
20.05.2021
epd
Von Phillipp Saure (epd)

Brüssel (epd). Es ist eine Strategie, in der jeder Themen aus seinem Alltag findet: Es geht um Abfall und Auto-Abgase, die Renovierung von Häusern, um Wälder und Lebensmittel. Der Grüne Deal der EU will all diese und noch mehr Felder beackern. Er skizziert einen Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft in Richtung Klimafreundlichkeit und Nachhaltigkeit. Ende vorletzten Jahres gestartet, stehen bald wichtige Wegmarken an.

Rund 50 „wichtigste“ Maßnahmen listet die am 11. Dezember 2019 von EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen vorgestellte Strategie auf. Von der „Kreislaufwirtschaft“ für weniger Müll und mehr Recycling über strengere Schadstoffgrenzwerte für Fahrzeuge und die energetische Gebäudesanierung bis zum Agrarplan „Vom Hof auf den Tisch“. Herzstück ist die Klimapolitik. Die Union soll bis 2050 klimaneutral sein.

Zwischenbilanz nach knapp anderthalb Jahren: Der Grüne Deal hat die Corona-Krise überlebt. „Im Frühjahr 2020 kam es zur Diskussion, ob man ihn sich noch leisten kann“, analysiert Susanne Dröge von der Stiftung Wissenschaft und Politik. „Interessanterweise wurde er beibehalten und auch als Antwort auf die Krise genutzt.“ Die Pandemie habe bei den Politikern sogar die Bereitschaft zum Geldausgeben erhöht, um die wirtschaftlichen Folgen in den Griff zu kriegen.

Tatsächlich schnürten die EU-Staats- und Regierungschefs im Juli ein Haushalts- und Wiederaufbaupaket von historischen 1,8 Billionen Euro und verknüpften es mit dem Grünen Deal. 30 Prozent der Gelder sollen zur Unterstützung der Klimaschutzziele verwandt werden.

Einen „Aufbruch zu neuen Horizonten“ sieht Forscherin Dröge darin aber nicht, „es hätten ja auch 80 Prozent sein können“. Auch das Klimaziel für 2030 sei vergleichsweise schwach. Auf mindestens 55 Prozent weniger Treibhausgasemissionen im Vergleich zu 1990 einigten sich Regierungen und Europaparlament im April 2021. Die Aufnahme von Gasen durch Senken wie Wälder darf mitgezählt werden.

Der Wirtschaftsverband BusinessEurope sieht den Green Deal generell positiv. Entscheidend sei die Umsetzung, urteilt der stellvertretende Geschäftsführer Alexandre Affre. Er wünscht unter anderem Spielraum für die Unternehmen, um Emissionsziele umzusetzen. „Das kann Ideen und Innovation bringen.“ Mit Spannung erwartet Affre deshalb den 14. Juli.

Dann wollen von der Leyen und ihr Team vorschlagen, wie die Klimaziele zu erreichen sind. Es werden Gesetzentwürfe erwartet, die zum Beispiel die Ausweitung des Emissionshandels auf die Schifffahrt umfassen könnten, eine neue Energiebesteuerung und strengere CO2-Grenzwerte für Pkw.

Andere Maßnahmen aus dem Paket von 2019 sind ebenfalls auf dem Weg. Im Oktober legte Brüssel ein Konzept zur energetischen Gebäudesanierung mit dem Ziel einer Verdopplung der Quote vor. Im Dezember kam ein Gesetzesvorschlag für umweltfreundlichere Batterien und im April ein weiterer, um Investitionen in nachhaltige Wirtschaftstätigkeiten zu fördern.

Der große Grüne Deal lässt sich mit etwas Phantasie auch in kleinen gelben Würmern finden. Denn ein Motiv ist eine innovative Landwirtschaft und Ernährung. Vor dem Hintergrund gaben die EU-Staaten im Mai grünes Licht für die Zulassung getrockneter Larven des Mehlkäfers als Lebensmittel. Sie könnten „im Ganzen als Snack oder als Zutat in einer Reihe von Lebensmitteln verwendet werden, zum Beispiel in Form von Pulver in Proteinprodukten, Keksen oder Pasta“, erklärte die Kommission.

Dabei gilt die EU-Agrarpolitik insgesamt Kritikern als Feld, auf dem eine Wende noch aussteht. Bei der vor von der Leyens Amtsantritt gestarteten Reform „wurde es noch nicht geschafft, die Agrarpolitik nachhaltiger auszurichten“, urteilt die EU-Parlamentarierin Delara Burkhardt (SPD). „Der Großteil der Subventionen soll weiter ohne Umweltkriterien an Betriebe vergeben werden.“ Auch zu Pestiziden und Antibiotika habe die Parlamentsmehrheit keine fortschrittliche Position.

Dessen ungeachtet ist Burkhardt froh, dass der Grüne Deal die Corona-Krise überlebt hat. Er entfalte auch Signalwirkung über Europa hinaus. „Im Weißen Haus sitzt jetzt jemand, der den Klimawandel ernst nimmt“, sagt die Schleswig-Holsteinerin mit Blick auf US-Präsident Joe Biden. „Da hat eine spannende Aufholjagd begonnen. Wenn wir weiter Vorreiter sein wollen, müssen wir nachlegen.“