Diakonie: Verschickungskinder mussten Kälte und Leid erfahren

Diakonie: Verschickungskinder mussten Kälte und Leid erfahren
Dokumentation zu Todesfällen 1969 in Kinderheilanstalt Bad Salzdetfurth vorgelegt

Bad Salzdetfurth (epd). Überforderung, Personalmangel und eine Verkettung unglücklicher Umstände: Das sind einer neuen geschichtswissenschaftlichen Dokumentation zufolge die Ursachen für drei Todesfälle während der Kinderverschickung in der Heilanstalt Bad Salzdetfurth im Jahr 1969. Die Diakonie in Niedersachsen hat am Montag die Studie vorgelegt und damit nach eigenen Angaben als erster Verband in Deutschland am Beispiel der Zustände in einer Einrichtung die Schicksale sogenannter Verschickungskinder systematisch aufgearbeitet. Viele Mädchen und Jungen hätten in ihren Kuren Kälte, Drangsalierungen und Leid erfahren müssen, sagte Diakonie-Vorstandssprecher Hans-Joachim Lenke.

Die dramatischen Todesfälle vor 51 Jahren in Bad Salzdetfurth waren im vergangenen Jahr ans Licht gekommen, nachdem eine heute über 50-jährige Frau in den Medien geschildert hatte, wie sie als vierjähriges Kind in der Einrichtung bei Hildesheim misshandelt worden war.

Zwischen Ende der 1950er und den 1980er Jahren wurden in Deutschland Millionen von Kindern aus gesundheitlichen Gründen über mehrere Wochen in Kurheime gebracht. Der Erfolg wurde unter anderem an der Zunahme von Gewicht gemessen.

Zwei Jungen und ein Mädchen im Alter von drei bis sieben Jahren kamen 1969 innerhalb von neun Wochen in dem Kinderkurheim bei Hildesheim ums Leben. Die vom Historiker Stefan Kleinschmidt erstellte Dokumentation könne niemand lesen, "ohne von den Schilderungen betroffen, ja belastet zu sein", sagte Lenke.

Die Dokumentation nennt 1969 das "Jahr der toten Kinder". Am 18. März des Jahres starb der siebenjährige Stefan aus Obernkirchen bei Stadthagen. Wahrscheinlich erstickte er, weil er gezwungen wurde, sein Abendessen hinunterzuschlingen. Der Obduktionsbericht stellte nüchtern "eine erhebliche Speisebreieinatmung und weitgehende Ausfüllung der Bronchien" fest. Zwölf Tage später, am 30. März, starb die sechsjährige Kirsten aus Hamburg. Als Todesursache wird Herzversagen nach einer rasant verlaufenden Infektion genannt. Am 18. Mai starb der dreijährige André aus Berlin, nachdem er von drei Jungen brutal verprügelt worden war.

Die beschämenden Erkenntnisse über die Arbeit und auch den Umgang mit Fehlern damals müssten Mahnung und Ansporn dafür sein, dass sich Übergriffe in asymmetrischen Beziehungen von Fachpersonal und betreuten Kindern nicht wiederholen dürfen, betonte Lenke. Dafür sei ein hohes Maß von Kontrollen in der Erziehungsarbeit nötig. Er bedaure zutiefst, was die Dokumentation offengelegt habe: "Wir bitten aber alle die ein tiefes Leid erfahren haben und damals lange damit alleingelassen wurden um Entschuldigung."

Die "Stiftung Kinderheilanstalt Bad Salzdetfurth" war bis zu ihrer Auflösung 1970 Mitglied bei der "Inneren Mission", einer Vorläuferin des heutigen Landesverbandes der Diakonie in Niedersachsen. Sie unterhielt in dem Kurort drei Heime für Verschickungskinder. Die Dokumentation sei nur ein erster, bewusst sachlicher Schritt gewesen, sagte Lenke. Er erneuerte seine Forderung nach einer trägerübergreifenden, bundesweiten Aufarbeitung der Schicksale von Kindern, die in Kurheimen misshandelt wurden.