Sozialphilosoph Negt: Corona-Krise stärkt demokratisches Bewusstsein

Sozialphilosoph Negt: Corona-Krise stärkt demokratisches Bewusstsein
13.05.2020
epd
epd-Gespräch: Daniel Behrendt

Hannover (epd). Nach Auffassung des Sozialphilosophen Oskar Negt (85) lernt die Mehrheit der Gesellschaft in der Corona-Krise den Wert von Demokratie und Solidarität mehr zu schätzen. "Viele Menschen begreifen womöglich zum ersten Mal wirklich, was Gesellschaft, was unsere Demokratie für sie bedeutet - nicht nur als politische Konstruktion oder als institutionelles Geflecht, sondern als etwas mit den eigenen Lebenszusammenhängen unmittelbar Verknüpftes", sagte Negt am Mittwoch im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). Angesichts von Abstandsregeln und starken Beschränkungen des öffentlichen Lebens entstünden zunehmend neue Formen, in Beziehung zueinander zu treten.

Als Beispiele nannte Negt "vielfältige Formen von Nachbarschaftshilfe" oder das Ritual des kollektiven Singens von Balkonen und Dachterrassen, den sogenannten "Flashmob sonoro", der im März in Italien als Reaktion auf den Shutdown des öffentlichen Lebens entstanden war. "Inmitten aller Beschränkungen entsteht eine neue Freiheit, die uns die Möglichkeit eröffnet, aus dem Erprobten, Konventionellen auszuscheren. Und das hat viel mit Mündigkeit, mit gelebter Demokratie zu tun", betonte Negt.

In der breiten Gesellschaft vollziehe sich gerade ein "leiser, vielleicht auch fragiler Bewusstseinswandel" hin zu mehr Solidarität und Respekt voreinander: "Die Menschen entdecken, wie sehr Demokratie und gesellschaftlicher Zusammenhalt von ihrem eigenen Handeln abhängen, wie viel in ihrer eigenen Verantwortung, aber auch ihrer eigenen Handlungsmacht liegt." In diesem "allmählich aufkeimenden Bewusstsein" liege die große Chance für die Gesellschaft, sich gegen antidemokratische Tendenzen und Denkweisen zu immunisieren, wie sie gegenwärtig etwa bei den sogenannten Hygiene-Demos zu beobachten sein.

Die Proteste gegen die Corona-Schutzmaßnahmen, die derzeit in vielen Städten Deutschlands wachsenden Zulauf verzeichnen, sieht Negt vor allem von "Enteignungs- und Abstiegsängsten sowie einem Verlust von Orientierung" getrieben, weniger hingegen "von einer Entrüstung über vermeintlichen Demokratieabbau": "Das Leitmotiv sind also altbekannte Befürchtungen, die auch schon vor Corona, etwa im Zusammenhang mit der sogenannten Flüchtlingskrise, Proteststimmung befeuert haben", sagte der Philosoph, der von 1970 bis 2002 den Lehrstuhl für Soziologie an der Leibniz Universität Hannover innehatte.

Auf die Frage, welchen Stellenwert die Corona-Krise vor dem Hintergrund seines langen Lebensweges einnehme, sagte der 1934 in Ostpreußen geborene Wissenschaftler: "Ich kann nur darüber staunen, welche gewaltigen Verwerfungen, welche bedrohlichen Potenziale, aber auch riesigen Chancen ein so kleiner Krümel wie das Coronavirus hervorruft. Dieser Moment ist extrem, mit kaum etwas zu vergleichen - selbst durch die Brille eines 85-Jährigen."