Jesuit Mertes: Schutzlogik überlagert derzeit alle anderen Anliegen

Jesuit Mertes: Schutzlogik überlagert derzeit alle anderen Anliegen

Hamburg (epd). In der Debatte über einen vorrangigen Schutz von Alten und Kranken vor der Corona-Pandemie hat der Jesuitenpater Klaus Mertes davor gewarnt, dass sich die derzeitige Ausnahmesituation in einen gefährlichen Dauerzustand verwandelt. "Für mich ist das Hauptproblem, dass die Schutzlogik derzeit alle anderen Anliegen überlagert", sagte Mertes der Wochenzeitung "Die Zeit". "Wir sind schon jetzt an einem Punkt, der unser Rechtsverständnis hart tangiert. Ich erlebe, dass sich viele Menschen in ihren Grundrechten verletzt fühlen. Das kann bald zu massiven gesellschaftlichen Konflikten führen."

Bei strikten Kontaktsperren für Alte und Kranke in Kliniken und Altenheimen müsse es im Einzelfall auch Spielräume bei der Umsetzung geben, sagte Mertes, der das Jesuitenkolleg St. Blasien im Schwarzwald leitet und 2010 zur Aufdeckung der Missbrauchsfälle am Berliner Canisius-Kolleg beigetragen hat. Er sei erschüttert über die hohe gesellschaftliche Akzeptanz der Beschneidung von Grundrechten.

Das Wohl einer Institution dürfe nicht einfach so kategorisch über das Einzelschicksal gesetzt werden, sagte Mertes in einem Streitgespräch mit dem evangelischen Theologen und Vorsitzenden des Deutschen Ethikrats, Peter Dabrock. "Es ist ein fundamentales Recht jedes Menschen, in der Not Beistand zu bekommen, selbst wenn sich für ihn ein Infektionsrisiko ergibt", sagte Mertes. Man könne "nicht ausgerechnet die Verletzlichsten zum Martyrium auffordern". "Ganz ohne Tapferkeit angesichts einer Todesgefahr gibt es keine Nächstenliebe", sagte der katholische Theologe.

Der Ethiker Dabrock hält es für die derzeit wichtigste Aufgabe, die Infektionskurve flach zu halten. "Denn nur so werden wir unser Gesundheitssystem, das ja auch für viele Menschen, über die wir hier sprechen, eine lebenswichtige Funktion erfüllt, leistungsfähig halten. Ich sage aber auch: Beschränkung auf unbestimmte Zeit halte ich für ethisch und politisch untragbar", sagte er in dem Doppelinterview. Eine zeitweilige Beschränkung des Rechts auf Selbstbestimmung auch von Alten und Kranken sei durchaus zu vertreten: "Es wird nicht grundsätzlich verwirkt, sondern vorübergehend eingeschränkt", sagte er.

Wehrlose einzuschränken habe nichts mit Solidarität zu tun, widersprach Mertes. Er bezweifle auch, dass es dabei immer um den Schutz der Alten und Kranken gehe. Genauso gehe es um den Selbstschutz der Jungen und Gesunden. "Es herrscht eine irrsinnige Angst vor der eigenen Verletzbarkeit. Wir haben kein vernünftiges Verhältnis zu unserer Sterblichkeit", sagte er.