Katastrophenforscher: Gesellschaft ohne Wegmarken in Corona-Krise

Katastrophenforscher: Gesellschaft ohne Wegmarken in Corona-Krise
17.03.2020
epd
epd-Gespräch: Silvia Vogt

Berlin (epd). Die Corona-Krise wird die Gesellschaft nach Überzeugung des Katastrophenforschers Martin Voss nachhaltig verändern. "Ganz grundlegende Parameter des gesellschaftlichen Zusammenlebens werden im Moment hinterfragt", sagte der Leiter der Katastrophenforschungsstelle der Freien Universität Berlin dem Evangelischen Pressedienst (epd). "Es werden jetzt Fragen gestellt, die wir beantwortet glaubten oder bisher nicht stellen mussten, so etwa zum Abwägen von ökonomischem Schaden und menschlichen Opfern." Das alles bringe so weitreichende Unsicherheiten, dass er Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier Recht gebe, dass die Welt nach Corona eine andere sein werde.

Wie sie dann aussehe, sei aber überhaupt nicht vorauszusagen, sagte Voss. "Wir gehen in so offenes Fahrwasser, dass wir keine Wegmarken mehr haben. Historisch ist das absolut singulär." Klassisch rückten die Menschen in Krisen zusammen, der Zusammenhalt sei danach größer als zuvor. Dies könne sich auch jetzt so entwickeln. "Aber das heißt natürlich nicht, dass man sagen kann: Das ist jetzt eine Superchance, uns neu aufzustellen", mahnte der Soziologe. Dazu sei viel zu viel aus den Angeln gehoben. Es gebe offene Verteilungs- und Gerechtigkeitsfragen, die Akzeptanz von Entscheidungen stehe auf dem Spiel. "Wie sich das auswirkt, ist überhaupt nicht abwägbar", betonte Voss.

Schon jetzt gerieten Menschen auch in Deutschland in existenzielle Nöte, litten unter den Einschränkungen oder hätten nicht abzufedernde Ängste. "Das wird sich noch weiter verästeln", erklärte Voss. Zwar reagierten viele rational auf die Entwicklungen und versuchten, das Beste daraus zu machen. "Aber viele sehen auch noch nicht, was auf sie zukommt. Das wird nicht in ein paar Wochen vorbei sein." Risse im Zusammenhalt und in der Solidarität zeigten sich auch beispielsweise in Blasen im Internet, in denen sich manche gegenseitig bestärkten, die Gefahren kleinzureden. "Da dringen die Berichte aus den italienischen Krankenhäusern gar nicht durch." All dies mache die künftigen sozialen Entwicklungen so unvorhersehbar.

Allerdings sei jetzt schon klar, dass die Krise die Oberfläche durchstoße. Die weltweiten Abhängigkeiten und damit auch der Wert eines globalen solidarischen Miteinanders gerieten in den Blick. Und Fragen nach Sinn und Bedeutung würden wieder aktuell: "Was ist wirklich wichtig im Leben? Wofür will ich da sein? Diese Fragen sind jetzt wieder auf dem Tisch", betonte Voss. "Und das bringt durchaus die Chance für eine bessere Gesellschaft."