50 Jahre Friedensarbeit: Grenzgängerin zum Nutzen der Kirche

 lila Kirchentagstuch zum 21. Evangelischen Kirchentag 1985 in Düsseldorf
© AGDF
Ein Relikt aus 50 Jahren christliche Friedensarbeit: Ein lila Kirchentagstuch zum 21. Evangelischen Kirchentag 1983 in Hannover.
50 Jahre Friedensarbeit: Grenzgängerin zum Nutzen der Kirche
Sie ist eine Vorreiterin der Ökumene, eine Streiterin für den Frieden: Die Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden (AGDF) blickt mit einer zeitgeschichtlichen Tagung auf ihr 50-jähriges Wirken zurück. Als Dachverband hat die AGDF die christliche Friedensarbeit in Deutschland maßgeblich geprägt. Oft im Stillen und Verborgenen, sagt Geschäftsführer Jan Gildemeister im Interview. Von den Erfahrungen können auch Kirchengemeinden profitieren.

Herr Gildemeister, angenommen, die AGDF wäre eine Person. Wie würden Sie diesen 50-jährigen Menschen beschreiben?

Jan Gildemeister: Als gesellschaftspolitisch engagiert. Die Person wäre konsequent um ein gewaltminderndes und umweltschonendes Handeln bemüht und würde sich für Gerechtigkeit einsetzen. Ein Mensch, der äußerst selbst- und machtkritisch ist. Belesen, durchaus auch mal die Bibel in die Hand nehmend. Ein zuverlässiger Typ, der sich mit vielen anderen vernetzt.

Die AGDF ist ein überkonfessionelles Sammelbecken mit kirchlichen und weltlichen Friedensdiensten. Wie ist es vor 50 Jahren dazu gekommen?

Gildemeister: Unsere neun Gründungsmitglieder waren noch ziemlich homogen: Alle waren sie in der Friedensarbeit engagiert, eng mit der evangelischen Kirche verbunden, aber immer ökumenisch geweitet. Die Vielfalt ist mit der Zeit entstanden. Über die inhaltliche Arbeit schlossen sich uns weitere Mitglieder an. Zum Beispiel Menschenrechtsinitiativen oder Organisationen aus der Friedensbildungsarbeit, die die AGDF als Dachverband attraktiv fanden. Im Laufe der Zeit hat sich die Bandbreite unserer Mitglieder vergrößert. Aber auch Mitglieder haben sich verändert. Interessant ist zum Beispiel, dass einige Organisationen, die sehr christliche Gründer hatten, über Generationen immer kirchenferner geworden sind. So hat sich bei uns auch die thematische Breite und inhaltliche Fundierung erweitert, was wir als Gewinn sehen.

Die Öffnung der AGDF für vielfältige Organisationen hat die Bewegung belebt. Plakat für Motorradfahrer, die 1981 am 10. Oktober im Bonner Hofgarten zu einer Demo verabredet waren.

Stichwort Ökumene: Ende der 1960er Jahre war das keine Selbstverständlichkeit. War die AGDF eine Vorreiterin?

Gildemeister: Ich denke schon, dass die AGDF aufgrund ihrer Praxisorientierung auch Vorbild gewesen ist. An der Gründung waren katholische Christinnen und Christen beteiligt, eine wichtige Rolle hatten auch die historischen Friedenskirchen wie zum Beispiel die Mennoniten. In der christlichen Friedensarbeit eint uns die Praxis: Der gemeinsame Einsatz für Frieden, für Gerechtigkeit, für die Bewahrung der Schöpfung. Wir haben ein gemeinsames inhaltliches Ziel, an dem wir arbeiten. Die Fragen von Religiosität sind sekundär. Aber auch wichtig. Die jeweiligen konfessionellen Besonderheiten kommen zur Sprache. Derzeit suchen wir als Dachverband eine geeignete Spiritualität für die Breite, die wir darstellen.

Gibt es in der christlichen Friedensarbeit einen typisch evangelischen Wesenszug?

Gildemeister: Was uns auszeichnet, ist der Bezug auf biblische Überlieferungen und christliche Traditionen. Damit einher gehen ein Suchprozess und auch Selbstvergewisserung. Zugleich sind wir offen für alle mit den gleichen inhaltlichen Zielen. Wichtig ist uns der Diskurs mit Andersdenkenden, und wir sind in dieser Hinsicht auch stark vernetzt. Ich finde, da steckt durchaus etwas Protestantisches drin. Aber ob das nun christlich oder typisch evangelisch ist – schwer zu sagen.

"Beides ist für Kirche sehr wichtig: Für eine klare Haltung einstehen und Gespräche unter Menschen ermöglichen, die ansonsten in ihren jeweiligen Themenblasen verharren würden."

Wie können Kirchengemeinden von den Erfahrungen der christlichen Friedensarbeit profitieren?

Gildemeister: Friedensbildung ist bei uns ein ganz wesentlicher Baustein. Sehr gute Konzepte sind entstanden, die in der Kinder- und Jugendarbeit, im Konfirmanden-Unterricht oder in der Erwachsenenbildung eingesetzt werden können. Mit Materialien der Ökumenischen Friedensdekade können Gottesdienste rund ums Thema Frieden und Gerechtigkeit gestaltet werden. Zu Themen wie Nachhaltigkeit und Schöpfung bewahren bieten Mitglieder wie auch "Brot für die Welt" Informationen und Handreichungen an. Damit Themen der christlichen Friedensarbeit in der Praxis immer wieder zum Tragen kommen, haben Kirchengemeinden eine Menge Möglichkeiten.

Was empfehlen Sie Kirchengemeinden, um in ihrem Umfeld ganz konkret friedensstiftend zu wirken?

Gildemeister: Nicht alles dulden und ganz klar Position beziehen: für die Menschenwürde, für Menschenrechte. Es ist gut, wenn Kirchengemeinden in ihrer Region auch mal einen Aufruf zu Aktionen und Demonstrationen mittragen. Im Umfeld vieler Gemeinden zeigen sich derzeit Tendenzen zu Nationalismus und Rassismus. Ich finde es wichtig, das aufzugreifen und Dialogräume zu schaffen. Die Kirchen sind in ihren Kommunen stark verwurzelt und haben die Chance, mit Veranstaltungen bestimmte Themen einzuspeisen. Ich glaube, beides ist für Kirche sehr wichtig: Für eine klare Haltung einstehen und Gespräche unter Menschen ermöglichen, die ansonsten in ihren jeweiligen Themenblasen verharren würden.

Diesen Dialog herzustellen ist aktuell auch die große Herausforderung für die christliche Friedensarbeit?

Gildemeister: In der Tat. Mit unserer Orientierung auf Gewaltfreiheit erreichen wir bestimmte Gruppen der Gesellschaft nicht. Hinzu kommt eine weitere Herausforderung: In der Friedensarbeit haben wir nur wenige Aktive, die die Vielfalt der Migrationsgesellschaft widerspiegeln. Daher ist es wichtig, zu schauen, wo wir Akteure finden, mit denen wir in Dialog kommen können. Da sind wir gerade auf dem Weg.

In fünf Jahrzehnten christlicher Friedensarbeit haben sich die Rahmenbedingungen immer wieder verändert. Was waren die wichtigsten Lerneffekte?

Gildemeister: Das Stärken von Zivilgesellschaft ist ein Aspekt, der uns am Herzen liegt und sich durch unsere Geschichte zieht. Verändert haben sich immer wieder die Schwerpunkte. In den 1980er Jahren engagierte sich die AGDF sehr stark bei den Kampagnen und Demonstrationen gegen die atomare Aufrüstung. Nach dem Kalten Krieg ging es vorrangig um Gewaltfreiheit: Als Alternative zu Krieg und Militär haben wir Methoden und Konzepte für das zivile Bearbeiten von Konflikten entwickelt und Friedensfachkräfte für Einsätze im Ausland ausgebildet. Als wir ab 2001 auf die "Krieg gegen den Terror"-Welle reagieren mussten, hat sich die Arbeit des Dachverbands mehr in Richtung friedenspolitische Lobbyarbeit verlagert. Uns wurde klar, dass wir zivile Konfliktbearbeitung und das, was gewaltfrei möglich ist, stärker ins politische Bewusstsein bringen müssen. Auch durch friedenspädagogische Bildungsarbeit.

Zivile Konfliktbearbeitung geschieht oft im Stillen und Verborgenen. Können Sie Beispiele nennen, die in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen werden?

Gildemeister: In den 1990er Jahren waren AGDF-Mitglieder ganz vorn, als es um die Ausbildung von Friedensfachkräften ging. Das war durchaus eine Pionierleistung. Vieles ist übernommen und in der Folgezeit staatlich und kirchlich gefördert worden. Die Ausbildung wurde ausgebaut und hat heute große Akzeptanz. Oder die jährliche Ökumenische Friedensdekade, die 1980 parallel in beiden deutschen Staaten initiiert wurde, in der DDR sicherlich mit die Basis für die „friedliche Revolution“ gelegt hat und 1992 zu einem gemeinsamen Projekt wurde: Da steht nicht AGDF drauf, steckt aber ganz viel AGDF drin.  Dieses Forum fördern wir von Beginn an stark und schieben darüber immer wieder aktuelle Themen nach oben – 2019 zum Beispiel "Friedensklima". Oder auch die Vorreiterrolle, die unsere Mitglieder im Bereich internationale Freiwilligendienste haben. Förderprogramme wie der Internationale Jugendfreiwilligendienst (IJFD) sind wesentlich der AGDF und ihren Mitgliedern zu verdanken.

In der Leipziger Nikolaikirche wurde 2007 das 25-jährige Bestehen der Friedensgebete gefeiert, die während der Herbstrevolution 1989 in der DDR eine herausragende Rolle gespielt hatten. Die Friedensgebete entwickelten sich aus der kirchlichen Friedensarbeit und wurden mit ihrer Öffentlichkeit zu einem Sammelpunkt für engagierte und systemkritische Basisgruppen in der DDR.

Inwiefern wirkt ein freiwilliges Jahr im Ausland friedensstiftend?

Gildemeister: Junge Menschen machen wichtige Erfahrungen. Es ist ein inter-kulturelles und inter-religiöses Lernen. Mit ihren Erfahrungen kommen sie nach Deutschland zurück, viele sind motiviert, sich weiter zu engagieren – zum Beispiel in der Hilfe für geflüchtete Menschen oder gegen Rechtsextremismus. Sie setzen ihre Erfahrungen in politisches Handeln um. Das funktioniert auch andersherum: Freiwillige aus anderen Ländern kommen nach Deutschland. Wer ein Jahr im Ausland gewesen ist, gewinnt ein  differenzierteres Bild. Und was auch wichtig ist: Wir und unsere Träger bekommen durch die Zusammenarbeit neue Anstöße aus anderen Ländern und umgekehrt. Der internationale Freiwilligendienst fördert Partnerschaften auf verschiedenen Ebenen und ist auch ein Beispiel für die Brückenbauer-Funktion der AGDF und ihrer Mitglieder.

"Mit der Bandbreite unserer kirchlichen und weltlichen Mitglieder sehen wir uns als AGDF als Grenzgängerin zum Nutzen der Kirche."

Was genau macht Ihre Brückenbauer-Funktion noch aus?

Gildemeister: Bei "Aktion Sühnezeichen Friedensdienste" zum Beispiel sind 90 Prozent der Freiwilligen kirchenfern. Wenn dann Entsendegottesdienste gefeiert werden oder die Freiwilligen sich in kirchlichen Einrichtungen engagieren, entsteht ein Kennenlernen von Kirche im positiven Sinne. Mit der Bandbreite unserer kirchlichen und weltlichen Mitglieder sehen wir uns als AGDF als Grenzgängerin zum Nutzen der Kirche. Je nach Sichtweise sind wir der Randbereich der evangelischen Kirche oder ihr Repräsentant. Und wenn wir Kirche repräsentieren, dann vermitteln wir eher ein positives Bild – gerade in Kreisen, die aus verschiedensten Gründen ein Problem mit Kirche haben. Da hören wir oft: Ach, Kirche ist auch das?

Wenn Sie auf 50 Jahre christliche Friedensarbeit zurückblicken, was ist für Sie eine der wichtigsten Lektionen?

Gildemeister: Wenn wir unter friedenspolitischen Gesichtspunkten in die Welt schauen und die Nachrichten verfolgen, kann das ja sehr entmutigend sein: so viele Meldungen über Terrorismus, Krieg und Gewalt. Was ich aber gelernt habe: Auf den zweiten Blick gibt es viele Pflänzlein von gelungenen gewaltfreien Aktivitäten, erreichter Gerechtigkeit und abgebauter Gewalt. Das wird aber oft nicht wahrgenommen, weil es nicht durch die Medien dringt.