Religion und Musik: Das spirituelle Traumpaar

Geige
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Musik, speziell Klassik, kann gerade in säkularen Zeiten auch ein Ort sein, an dem Spiritualität und Religiosität außerhalb des kirchlichen Geschehens spürbar und erlebbar werden.
Religion und Musik: Das spirituelle Traumpaar
Die enge Beziehung zwischen Musik und Religion ist über Jahrhunderte weitgehend theologisch bestimmt. Heute werden ihr von Künstlern Wechselwirkungen zugeschrieben, die beide Instanzen inspirieren und erweitern können.

"Die Musica ist eine Gabe Gottes, die da fröhlich macht." Was Martin Luther Zeit seines Lebens mit Freude erfüllt, ist Generationen von Komponisten alles andere als fremd, vor und nach dem Reformator. Über Jahrhunderte der abendländischen Kultur schaffen Komponisten ihre Werke überwiegend oder ausschließlich für Religion und Kirche, häufig in ihrem Auftrag, und besonders für liturgische Höhepunkte an herausragenden Festtagen. Kompositionen zur Andacht der Gläubigen und zum Lobe Gottes lassen sich schon im Mittelalter nachweisen.

Eine der frühesten Kompositionen des vollständigen Ordinariums ist die um 1350 entstandene und in den letzten Jahren mehrfach neu eingespielte Messe de Nostre Dame von Guillaume de Machaut, der dem Klerus der Kathedrale von Reims angehört. Messen von Duprez, Palestrina, Schütz und Schelle, später Oratorien wie Händels Messias und Haydns Die Schöpfung sind Schlüsselwerke und ein Vermächtnis vieler Komponisten.

Die Tradition dieser religiös inspirierten Kunst reicht vom Frühbarock über die Wiener Klassik bis zur Romantik. Johann Sebastian Bach komponiert seine Passionen, Messen und geistlichen Kantaten ausschließlich "Soli Deo Gloria", zum Ruhme Gottes. Der späte Beethoven nennt seine zwischen 1819 und 1823 komponierte Missa solemnis sein "gelungenstes Werk". Die Großen unter Italiens Opernkomponisten beginnen oder beschließen ihre Laufbahn mit Musica sacra. Puccini, der aus einer Familie von Kirchenmusikern stammt, bringt seine Messa di Gloria als Abschlussprojekt seines Studiums zur Aufführung. Rossinis Petite Messe Solenelle und Verdis Quattro pezzi sacri erscheinen jeweils zur Vollendung des künstlerischen und des Lebensweges.

Mehr Spiritualität in der Musik als in der Kirche?

Musik, resümiert der Soziologe und Musiktheoretiker Theodor W. Adorno um die Mitte des vergangenen Jahrhunderts, sei "allemal Theologie". "Ich denke", meint dazu der Organist und Kirchenmusiker Christian Schmitt, "dass durch die Kirche und die Heilige Schrift viele Komponisten dazu bewegt wurden, sich mit religiösen Themen auseinanderzusetzen." Daraufhin seien zahlreiche großartige geistige Werke entstanden. Aber das ist keineswegs eine urheberspezifische Einbahnstraße. Musik, speziell Klassik, kann gerade in säkularen Zeiten auch ein Ort sein, an dem Spiritualität und Religiosität außerhalb des kirchlichen Geschehens spürbar und erlebbar werden. Sehr prägnant hat dies der russische Pianist Arcadi Volodos im vergangenen Jahr in einem Spiegel-Gespräch zum Ausdruck gebracht. Es sei falsch, meint der 1972 im heutigen St. Petersburg geborene Künstler, "die Musik auf Religiosität im kirchlichen Sinne zu reduzieren". Und weiter: "Ich bin kein Experte für Religion. Nur dies: Ich denke, in der Musik kann man mehr Spiritualität finden als in der Kirche."

Volodos, findet Karl-Heinz Steffens, Chefdirigent der Deutschen Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz, habe vollkommen Recht. "Aufführungen zum Beispiel von Bruckner-Sinfonien wirken auf mich wie ein Gottesdienst." Steffens stellt das Musikfest Speyer im letzten Juni unter das Motto "Reformation/Mendelssohn". Er empfinde da, betont er, "ein spirituelles Erlebnis. Eine sehr gute Aufführung ist für mich wie ein Tabernakel. Sie hat dann etwas Geheimnisvolles an sich, als öffne sich die Tür zu diesem Tabernakel." In manchen Momenten, sagt der Dirigent, werde eben diese Tür auch aufgemacht. Es lasse sich ahnen, "was man hört". Sein Kollege Ingo Metzmacher formuliert unter dem Eindruck der neu eröffneten Hamburger Elbphilharmonie eine ähnliche Erfahrung: "Ich will jetzt gar nicht zu spirituell klingen, weil ich das gar nicht bin, aber bei einem Konzert entsteht ja etwas, was mehr ist als nur die physikalischen Maße."

Eine Aufführung wie ein Gottesdienst

Der schwedische Dirigent Heribert Blomstedt, Ehrenkapellmeister des Gewandhausorchesters Leipzig, sieht Konzert- und Gotteshaus als die beiden Seiten einer Medaille. Im vergangenen Juni, wenige Wochen vor seinem neunzigsten Geburtstag, äußert er: "Religion bedeutet Sehnsucht und Suche nach dem Vollkommenen. Auch die Musik erzählt davon. Ich möchte das mit meinem Publikum teilen. Musik hat diese mysteriöse Fähigkeit, uns dorthin zu führen, wo wir sonst nicht hingeführt würden." Musik, bekennt Blomstedt, lasse die "Illusion von Ewigkeit in uns entstehen". Die metaphysische Dimension des Hörens von Musik manifestiert sich auch in den Reflexionen des 1992 gestorbenen amerikanischen Komponisten John Cage, der mit seiner Musik "innere Sammlung, Stille" ermöglichen will. Musik habe den Zweck, "den Geist zu reinigen und zur Ruhe zu bringen, um ihn für göttliche Einflüsse empfänglich zu machen".

Die Schnittmengen zwischen Konzertsaal und Kirche zeigt der Komponist Dieter Schnebel plastisch auf, Wortführer einer radikal erneuerten Ästhetik nach dem zweiten Weltkrieg. In jedem Konzert, verdeutlicht der evangelische Theologe und ehemalige Pfarrer, gebe es eine "genuine Tendenz" hin zur Religion: "Die Hörer verfolgen das Geschehen ausgerichtet auf ein Podium. Sie erleben die Aufführung wie einen Gottesdienst." Die Kultur des andächtigen Hörens von Musik sei so im 19. Jahrhundert entstanden, als immer mehr säkular geprägte Werke entstanden seien. Beispielhaft erwähnt Schnebel das Deutsche Requiem von Brahms, in dem Christus trotz des Titels gar nicht vorkommt.

Sind Religion und Musik in ihrer Wechselwirkung augenscheinlich ein kulturelles und spirituelles Traumpaar, ist diese Beziehung indes sehr viel komplexer als auf den ersten Blick vermutet. Sie kann Anstoß und Medium von Prozessen religiöser Identität und Wahrnehmung wie künstlerischer Verwirklichung sein. Mitunter, wie bei Mark Rosenthal, dem in Bonn lebenden Operntenor, Chorleiter und Stimmbildner jüdischen Glaubens, auch Quelle der künstlerischen Existenz überhaupt. Rosenthal sagt auf die Frage nach der Spiritualität in der Musik, für ihn gehe es eher darum, "ob der Glaube als Gesamtgestalt eine Rolle spielt". Oder ob ganz allein die feste Überzeugung zähle, " dass es eine unermessliche Kraft im Universum gibt, was unserer Vorstellung schlicht übersteigt".

Rosenthal, Komponist und Arrangeur auch von jüdischer Musik, betont, sein Leben sei tagtäglich von dem Gedanken geprägt, Ad-schem (hebräisch: Gott) wisse ganz genau, "was er tut§. Diese Zuversicht gehe direkt in sein Musizieren ein. "Da Musik wahrhaftig die einzige universelle Sprache darstellt, ist Ad-schem sicherlich in jeder Phrase auf die eine oder die andere Art und Weise zu finden, egal ob ich selbst seine Präsenz zu finden vermag." Diese Erkenntnis, meint der Künstler, mache ihn "schön selig". Sie stelle auch ein starkes Argument für die Musik dar, etwa Mahlers dritte Sinfonie.

Übergänge in beide Richtungen

Für den EKD-Kulturbeauftragten Johann Hinrich Claussen stößt die jeweilige Selbstbehauptung von Musik und Spiritualität allerdings auch an Grenzen: "Mich faszinieren überraschende Übergänge zwischen dem Religiösen und Ästhetischen in beiden Richtungen: wie ein Kunstwerk eine plötzliche Erfahrung der Transzendenz eröffnet oder wie umgekehrt ein Gottesdienst eine unverhoffte Erfahrung von Schönheit schenkt." Ihn langweilten freilich, gibt Claussen zu bedenken, kunstreligiöse Überbietungsbehauptungen à la 'Die Kunst ist die bessere Religion': "Damit wird man weder der Religion noch der Kunst gerecht."

Ähnlich verweist der Theologe Meinrad Walter auf die Gefahr einer unangemessenen Überdehnung, eines missverständlichen Entweder-Oder. Das Verhältnis Musik und Spiritualität, erläutert der stellvertretende Leiter des Amtes für Kirchenmusik der Erzdiözese Freiburg, könne eine gegenseitige Inspiration sein. "Die extremen Positionen berühren sich, wenngleich ich sie nicht teilen kann: Auf der einen Seite die Vertreter der Religion, die Musik beargwöhnen und allzu sehr reglementieren wollen, auf der anderen jene, die Musik zur Religion erklären." Musik in der Kirche heiße dann auch, dass die Kirche ein Raum für Dialoge zwischen Musik und Spiritualität sei, mit Musik verschiedenster Stilrichtungen, "letztlich ein Sowohl-Als auch." Unter dem Strich eine Position, in der sich Volodos wiederfinden könnte. Und die jeder beim Besuch eines Konzerts in der Kirche selbst erleben kann.