Zwangsbehandlung ohne gerichtlich verfügte Unterbringung möglich

Zwangsbehandlung ohne gerichtlich verfügte Unterbringung möglich
Ärztliche Zwangsbehandlungen psychisch Kranker müssen im Einzelfall auch ohne eine gerichtlich angeordnete Unterbringung in einer geschlossenen Einrichtung möglich sein. Das hat das Bundesverfassungsgericht klargestellt.

Karlsruhe (epd). Die gesetzlichen Regelungen, dass Patienten grundsätzlich nur in der geschlossenen Psychiatrie zwangsweise behandelt werden dürfen, sei mit der staatlichen Schutzpflicht nicht vereinbar, entschied das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe in einem am Donnerstag veröffentlichten Beschluss (AZ: 1 BvL 8/15). Deutschlands höchstes Gericht forderte deshalb eine Gesetzesreform.

Nach 2013 neu geregelten gesetzlichen Bestimmungen ist eine medizinische Zwangsbehandlung nur zulässig, wenn der psychisch Kranke oder behinderte Mensch seinen freien Willen nicht mehr äußern kann und die Therapie nur mit freiheitsentziehenden Maßnahmen - in der Regel in einer geschlossenen Einrichtung - möglich ist. Eine ambulante Zwangsbehandlung ist danach nicht zulässig.

Frau lehnte Behandlung ab

Im jetzt entschiedenen Fall litt die mittlerweile verstorbene 63-jährige Patientin an einer schizoaffektiven Psychose. Weil sie ihre Angelegenheiten nicht selbst regeln konnte, stand sie unter Betreuung. 2014 wurde bei ihr eine Autoimmunkrankheit diagnostiziert, die zu einer massiven Muskelschwäche führte. Auch Brustkrebs wurde festgestellt.

Die notwendige medizinische Behandlung lehnte die Frau ab. Ihre Betreuerin beantragte daher die zwangsweise Unterbringung in einer geschlossenen Einrichtung, wo sie zwangsweise medizinisch behandelt werden sollte. Andernfalls drohten schwere gesundheitliche Schäden, Schmerzen und der Tod. Die Frau wurde daraufhin zwangsweise, zuletzt auf einer geschlossenen Demenzstation, untergebracht und dort nach gerichtlicher Verfügung auch zwangsbehandelt.

Die Erkrankungen führten schließlich dazu, dass die Frau so geschwächt war, dass sie sich nicht mehr fortbewegen konnte. Als die Betreuerin die Verlängerung der zwangsweisen Unterbringung beantragte, wurde dies aber abgelehnt. Da die geschwächte Kranke keine "Weglauftendenz" mehr habe, sei die Unterbringung als freiheitsentziehende Maßnahme nicht mehr möglich, hieß es. Ohne die gerichtlich angeordnete Unterbringung in einer geschlossenen Einrichtung sei nach dem Gesetz dann eine Zwangsbehandlung aber auch nicht mehr zulässig, entschied das Landgericht Stuttgart. Der Bundesgerichtshof bestätigte diese Ansicht, hielt das Gesetz aber für grundgesetzwidrig und legte es dem Bundesverfassungsgericht vor.

Gericht: Staat muss Schutzpflicht nachkommen

Das Bundesverfassungsgericht sieht hier nun eine Gesetzeslücke. Denn der Staat müsse seiner Schutzpflicht gegenüber dem betreuten Kranken auch dann nachkommen, wenn er nicht in einer geschlossenen Einrichtung untergebracht ist. Das Recht auf körperliche Unversehrtheit sei nicht nur ein Abwehrrecht gegenüber dem Staat, es beinhalte auch Schutzpflichten des Staates, wenn Kranke ihren freien Willen nicht mehr äußern können.

Hier habe zwar die Kranke sich gegen die medizinischen Maßnahmen ausgesprochen, wegen ihrer psychischen Erkrankung habe aber kein freier Wille vorgelegen. Die Frau habe die Notwendigkeit der Behandlung nicht erkannt. "Die staatliche Gemeinschaft darf den hilflosen Menschen nicht einfach sich selbst überlassen", forderten die Karlsruher Richter. Bis zu einer erforderlichen gesetzlichen Neuregelung seien daher Zwangsbehandlungen außerhalb einer geschlossenen Einrichtung unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt. Dies gelte zumindest dann, wenn psychisch kranke und behinderte Menschen ihren freien Willen nicht mehr äußern und sich auch nicht mehr fortbewegen können.