Um den Dialog in Europa ist es derzeit nicht gut bestellt. Die Frage nach der Aufnahme von Flüchtlingen spaltet die Länder. Nach Gipfeln und Treffen bleiben die Fronten verhärtet. Immer mehr Länder machen die Grenzen dicht, zuletzt auch Schweden, das pro Kopf die meisten Asylsuchenden aufgenommen hat. Es fehlten Ideen für gemeinsame Positionen und denkbare Kompromisse, beklagte Bundespräsident Joachim Gauck am Freitag in Berlin. Er hatte Denker aus verschiedenen europäischen Ländern eingeladen - zum gegenseitigen Verstehen und Suchen nach diesen Lösungen.
Kritiker der deutschen Haltung dabei
Sein "Bellevue Forum" eröffnete Gauck mit einem erneuten dringenden Appell an Europa. Grundlegende Errungenschaften wie die Abschaffung von Grenzkontrollen im Schengenraum würden infrage gestellt. Stärker als frühere Spannungen drohe die Flüchtlingskrise das Grundgefüge Europas zu destabilisieren. "Das ist nun wahrlich eine verstörende Entwicklung", sagte er. Es könne und dürfe nicht sein, dass die Europäische Union "sich selbst demontiert und das Einigungswerk von Jahrzehnten an der Flüchtlingsfrage zerbricht".
Ihm komme es auf das "Warum" an, sagte Gauck. Um das zu verstehen, hatte er unter anderem die ehemalige griechische EU-Kommissarin Anna Diamantopoulou eingeladen, die um Verständnis für ihr Land warb, das zum Einen die Wirtschaftskrise bewältigen muss und zum Anderen die in Europa strandenden Flüchtlinge aufnimmt. Eingeladen war auch die französische Journalistin Sylvie Kaufmann, die darüber berichtete, wie in Frankreich die jüngsten Terroranschläge die Flüchtlingsdebatte prägten.
Auf dem Podium vertreten waren auch Kritiker der deutschen Haltung in der Flüchtlingspolitik. Der britische Publizist David Goodhart sagte, sein Land, eher ein Verweigerer bei der Frage der Aufnahme von mehr Flüchtlingen, gehöre zu den Realisten in Europa. Goodhart verwies darauf, dass Großbritannien einen viel größeren Beitrag für die Entwicklungshilfe zahle als alle anderen Staaten in Europa. "Wir helfen, aber auf einem anderen Weg", sagte er.
Zu Kompromissen ermuntert
Auch die frühere Berliner Ausländerbeauftragte Barbara John mahnte ein Umdenken in Berlin an. Die Deutschen versuchten gerade, "Bilderbucheuropäer" zu sein. "Aber die können es nicht", sagte sie. John forderte, die ganze internationale Gemeinschaft mit ins Boot zu holen, nicht nur Europa. Die Genfer Flüchtlingskonvention gelte für viele Staaten, belaste derzeit aber nur Europa. Zudem sprach auch sie sich für mehr Hilfe vor Ort aus. Das Geld, was hierzulande für die Versorgung von Flüchtlingen ausgegeben werde, könne in den Anrainerstaaten Syriens viel mehr bewirken. "Hier stoßen wir damit eine boomende Industrie an", sagte die Vorsitzende des Paritätischen Wohlfahrtverbandes in Berlin.
Bundespräsident Gauck ermunterte die deutsche Regierung zu Kompromissen, bei aller Beunruhigung über "Be- und Abgrenzungsstrategien", wie er es formulierte. Es sei nicht undenkbar, "dass sich europäische und regionale Lösungen ergänzen können", sagte er.
Bei allen nationalen Diskursen dürften aber gemeinsame Prinzipien nicht vergessen werden, betonte er ebenso. "Mit der Genfer Flüchtlingskonvention haben sich alle europäischen Staaten zum Schutz von Flüchtlingen verpflichtet", sagte er. Personen, Bewegungen, Parteien und Regierungen, die Flüchtlinge instrumentalisierten, um Fremdenfeindlichkeit zu schüren, "entsprechen nicht den humanistischen und rechtlichen Grundlagen unserer europäischen Gemeinschaft". Nach den jüngsten fremdenfeindlichen Vorfällen in Sachsen forderte Gauck: "Isoliert die Hetzer, die Brandstifter und Gewalttäter."