Deutschlands Entwicklungspolitik entdeckt das Thema Religion

Deutschlands Entwicklungspolitik entdeckt das Thema Religion
Lange war das Thema Religion ein Tabu in der entwicklungspolitischen Szene. Doch vielerorts haben Priester und Imame einen viel besseren Einfluss auf Projekte als Politiker und Beamte. Nun setzt ein Umdenken ein.

Berlin (epd)Die deutsche Entwicklungspolitik entdeckt das Thema Religion. Erstmals in der mehr als 50-jährigen Geschichte des Bundesentwicklungsministeriums hat Minister Gerd Müller (CSU) zu einer prominent besetzten Fachtagung in sein Haus geladen. "Zu lange wurde der Einfluss von Religion auf die internationale Zusammenarbeit vernachlässigt", stellt das Ministerium in einem Strategiepapier fest. "Über 80 Prozent der Menschen sind religiös."

Nur wenige säkularisierte Gesellschaften

Gespräche mit Repräsentanten der Glaubensgemeinschaften gehören schon bisher zu den Besuchsprogrammen des Entwicklungsministers Müller, etwa in der Zentralafrikanischen Republik und in Nigeria. Neu ist aber, dass sein Haus die Kooperation mit den Religionen zum Teil der Strategie macht. Über Jahrzehnte war das Thema bei vielen entwicklungspolitisch Engagierten ein Tabu. In der hoch politisierten Dritte-Welt-Szene hätten selbst in konfessionellen Verbänden viele der Mitarbeiter mit dem Thema Religion gefremdelt, berichten Verantwortliche.

Seit einigen Jahren hat ein Umdenken eingesetzt: Zum viel propagierten Lernen von den Partnerländern im Süden gehört die Erkenntnis, dass es auf der Welt nur wenige säkularisierte Gesellschaften gibt. "Westeuropa ist da eine Insel", sagt der Mitarbeiter eines großen Hilfswerks. "Religion ist in Entwicklungs- und Schwellenländern häufig Thema Nummer eins", stellt auch Bernhard Felmberg fest. Der Theologe ist im Ministerium für den Bereich Kirchen und Zivilgesellschaft zuständig. In vielen Partnerländern genössen Vertreter der Glaubensgemeinschaften einen höheren Respekt als die staatlichen Vertreter von Politik und Verwaltung, sagt Felmberg.

Das Ministerium zeigt eine Vielzahl von Projekten auf, die schon jetzt in Zusammenarbeit mit religiösen Autoritäten gelingen. Die Beispiele reichen von der Wassernutzung in Jordanien über die Durchsetzung von Frauenrechten in Afghanistan sowie die ländliche Entwicklung in Burkina Faso bis zum Energiesparen mit angepassten Technologien in Indien und dem Kampf gegen Genitalverstümmelung in Mauretanien.

"Entwicklungspolitik nicht Werte-neutral"

Die Frage, mit wem zusammengearbeitet werden soll und mit wem nicht, ist jedoch komplex: "Die deutsche Entwicklungspolitik ist weltanschaulich neutral - sie ist allerdings nicht Werte-neutral", erklärt Minister Müller. Der CSU-Politiker räumt ein, "dass im Namen der Religionen auch viel Elend und Leid über die Menschen gebracht wurde". Auch heute versuchten radikale religiöse Kräfte, mit Terror und dem Aufbau totalitärer Regime das Zusammenwachsen der Welt zu verhindern. Um ihnen nicht weiter das Feld zu überlassen, sollen die "Friedensstifter" in den Religionsgemeinschaften gestärkt werden.

Das Ministerium eröffnet bei seiner Fachtagung am Mittwoch und Donnerstag in Berlin eine Diskussion. Auf der Liste der Referenten stehen etwa der Generalsekretär des Weltkirchenrats, Olav Fykse Tveit, der Erzbischof des pakistanischen Lahore, Sebastian Francis Shaw, und der Großmufti des Libanon, Scheich Abdul Latif Derian. Die Friedensnobelpreisträgerin Tawakkol Karman aus dem Jemen sitzt ebenso mit am Tisch wie Vertreter von Hilfswerken, Politik und Religionsgemeinschaften. Der Anspruch des Entwicklungsministeriums an die strategische Neuausrichtung ist hoch: "Dort, wo Religion Teil des Problems ist, muss sie auch Teil der Lösung werden."