Afghanistan: "Die Ausländer erkennt man am Gang"

Afghanistan: "Die Ausländer erkennt man am Gang"
Kerstin Lepper wohnt seit fünf Jahren in Afghanistan und arbeitet dort für verschiedene Entwicklungshilfeprojekte. Sie erzählt von ihrem Alltag in dem umkämpften Land, von Herdexplosionen und Raketenangriffen – und der Herzlichkeit der Afghanen.
09.01.2012
Von Kerstin Lepper

Nach fünf Jahren in Afghanistan kann mich nur noch wenig verwirren. Dachte ich. Nach einem Heimaturlaub in Deutschland reise ich im Frühjahr 2011 wieder nach Afghanistan ein und beginne dort, für das afghanische Programm zur Reintegration von ehemaligen Aufständischen zu arbeiten. Am Flughafen wartet ein gepanzertes Fahrzeug auf mich, um mich abzuholen. Der Fahrer dreht sich zu mir um und sagt auf Englisch: "Nimm dir die Waffe da auf dem Boden! Weißt du, wie man schießt?" "Äh, nein, nicht wirklich", antworte ich. "O.k.", sagt der Fahrer, "bringe ich dir bei." Er zeigt mir, wie man lädt und abdrückt. Für den Fall, dass wir angegriffen würden und die beiden Begleitsoldaten "down" seien, meint er.

In der nächsten Woche werde ich noch dreimal aufgefordert, diese Waffe zu tragen. Ich habe Mühe zu erklären, weshalb ich das wirklich für keine gute Idee halte. Ich bin manuell relativ ungeschickt. Die Waffe habe ich nie angefasst.

Ich lebe seit 2006 durchgängig in Afghanistan und habe dort für verschiedene Organisationen gearbeitet: Zunächst entsandte mich der Deutsche Entwicklungsdienst (heute: GIZ) nach Kabul, um in einer nichtstaatlichen Organisation eine Abteilung für Friedensarbeit aufzubauen. Dann arbeitete ich für die Welthungerhilfe, für ein amerikanisches Entwicklungshilfeprogramm, für das Bundesministerium für Wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit und schließlich eben für das Reintegrationsprogramm, das von ISAF unterstützt und der internationalen Gemeinschaft finanziert wird.

Erst explodiert der Ölofen, dann der Herd

Drei Jahre habe ich in einem Haus in Kabul zusammen mit einer Kollegin vom Deutschen Entwicklungsdienst gelebt, ein Jahr in Mazar-e Sharif in einem Haus mit Schaf und Garten – beide Gebäude wurden jeweils von zwei unbewaffneten Afghanen bewacht. Momentan lebe ich im Nato-Hauptquartier in Kabul.

Kerstin mit Schleier vor der blauen Moschee zum Fest Nauroz in Mazar-e Sharif. Foto: Lepper

Mein erster Winter in Kabul: Das Thermometer fiel auf minus 20 Grad, im Haus waren es minus 18 – der Ölofen war explodiert. Der Herd flog einige Monate später in die Luft. Das Gulasch klebte nach der Explosion an der Küchendecke und erinnerte an moderne Kunst, meine Kollegin und ich kamen mit dem Schrecken davon. Der kalte Wind pfiff unter den Fensterscheiben durch, weil das Glas nicht mit dem Rahmen abschloss. Das war in gewisser Weise auch ein Vorteil, denn bei den Nachbarn ließ jede kleine Bombenexplosion in mittlerer Entfernung das Fensterglas splittern.

In den ersten zwei Jahren, die ich in Kabul lebte, gab es im Winter Blumenkohl, Mandarinen, Kartoffeln und Zwiebeln. Aus diesen Zutaten konnte man sich etwas Leckeres zubereiten. Seit ein paar Jahren gibt es in Kabul Supermärkte, die durchaus mit einem deutschen Rewe zu vergleichen sind – und leider auch ein Anschlagsziel. Nachdem sechs Supermarktkunden bei einem Anschlag ums Leben gekommen sind, sind die beiden größten Geschäfte "off limits", wie es heißt. Insgeheim hoffte ich in meiner ersten Zeit in Afghanistan, vielleicht bald evakuiert zu werden. Aber das passierte nicht.

Unter Beschuss

Irgendwie richtete ich mich ein. Ich lernte einigermaßen Dari zu sprechen, eine der zwei offiziellen Landessprachen in Afghanistan. Ein paar Tage nach meiner Ankunft habe ich das erste Mal einen wütenden Mob erlebt, der durch die Straßen zog, um gegen die Mohammed-Karikaturen in Dänemark zu protestieren. Bewachte Gebäude von Hilfsorganisationen wurden gestürmt und zerstört, Autos gingen in Flammen auf, der Himmel war schwarz. Ich konnte niemanden anrufen, das Mobilfunknetz war zusammengebrochen. Weil auch unser Gebäude beschossen wurde, konnten wir erst nach mehreren Anläufen in zwei Pkws fliehen. Meine afghanischen Kollegen kümmerten sich um mich, so gut sie konnten.

Wie kommt man damit klar? Zum Beispiel mit Galgenhumor. Nach zwei Wochen schrieb ich meiner Freundin nach Deutschland: "Du musst dir keine Sorgen machen: Ab und zu werden Japaner erschossen und Briten entführt, aber das sind Einzelfälle." Es steckte sogar etwas Wahres in der Aussage. Bis heute sind ausländische Entwicklungshelfer oder andere Ausländer kein generelles Anschlagsziel. Man kann natürlich dennoch Opfer eines Attentats werden, wenn man zur falschen Zeit am falschen Ort ist.

Und dann kommt es plötzlich doch zu einem gezielten Angriff wie der Erschießung unseres deutschen Kollegen am Weihnachtsabend 2010, der in der Nähe von Mazar gearbeitet hat oder der Ermordung und Enthauptung von mehreren Wächtern und drei internationalen UN-Kollegen in Mazar im März. Auch sie kannte ich persönlich.

"Alle auf den Boden!"

Seit im August zwei deutsche Entwicklungshelfer beim Wanderausflug erschossen wurden, darf ich in Kabul auch die paar Schritte zum Laden an der Ecke nicht mehr gehen. Für alles braucht man einen Fahrdienst. Ich war im ISAF-Hauptquartier, als es dieses Jahr im September 21 Stunden lang beschossen wurde. Gewehrbeschuss und Raketen – die ganze Nacht hindurch. Ich wartete in meiner schweren kugelsicheren Weste in der Turnhalle. Bei jeder anfliegenden Rakete hieß es: "Alle auf den Boden!" Stundenlang dachte ich, die Angreifer seien im Camp, weil die Schüsse so nah waren. Zum Glück kamen die Taliban aber doch nicht ins Lager.

Eines der afghanischen Projekte der Deutschen Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ): Ein Schönheitssalon. Foto: Lepper

Wenn ich draußen unterwegs bin, trage ich ein Kopftuch, was vor allem auf dem Land wichtig ist. Eine Burka haben die deutschen Kolleginnen und ich nie getragen. Uns Ausländer erkennt man ohnehin am Gang oder an den Schuhen, sagen die Einheimischen.

Das afghanische Umfeld ist der beste Schutz: Kollegen, Nachbarn, Ladenbesitzer. Deshalb verfolgt die deutsche Entwicklungszusammenarbeit eine Sicherheitsstrategie, die zwar Sicherheit nicht garantieren kann, aber die Gefährdung ihrer Mitarbeiter verringert: Es geht darum, die Afghanen von dem zu überzeugen, was wir tun. Deshalb bemühen wir uns, unsere Ziele möglichst gut zu vermitteln und um Verständnis zu werben. Und wir fragen, was in einer Region benötigt wird.

Die Aufgabe zu spät erkannt

Mit dieser Philosophie können zum Beispiel Infrastrukturprojekte von der allerersten Kontaktaufnahme in einem Dorf bis zu ihrer Einweihung schon mal länger als ein Jahr dauern. Wenn es Misstrauen gibt, etwa die Vermutung, wir seien Spione der Amerikaner, wir wollten nur Geld verdienen oder die Mädchen aufstacheln, wird vielleicht trotzdem mit einem Projekt begonnen, aber die Akzeptanz der Bevölkerung ist gering.

Mein Eindruck ist, dass vieles in Afghanistan besser geworden ist: In Kabul gibt es durchgängig Strom und eine Basisgesundheitsversorgung, eine Verkehrsinfrastruktur entsteht in Afghanistan mit einer Eisenbahn und Flughäfen, sieben Millionen Schüler lernen in Schulen, ein Drittel davon sind Mädchen. Es geht darum, den Afghanen zu helfen, eines Tages ohne Einfluss von außen ihr Land zu verwalten. Diese Aufgabe ist langwierig und zu spät erkannt worden. Zu viel Geld fließt zu schnell nach Afghanistan. Es kann dort gar nicht sinnvoll eingesetzt werden, weil die Strukturen fehlen.

Zu viel Geld – nicht zu wenig

Je weniger Erfolge vorgezeigt werden können, desto mehr Geld fließt. Die Ministerien geben nur 20 bis 40 Prozent ihres Jahresbudgets aus, weil Kapazitäten fehlen und die Abstimmung mit den Provinzen nicht funktioniert. Das viele Geld fördert die Korruption, die die Afghanen schlimmer finden als die Sicherheitslage. Korruption und Bestechlichkeit in Regierung und Verwaltung haben dazu geführt, dass die meisten Afghanen das Vertrauen in ihre Regierung verloren haben. Dazu kommen die Übergriffe der korrupten Polizei.

Die Menschen ziehen sich ins private Umfeld zurück und haben verständlicherweise wenig Lust, gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen. Die Spannungen zwischen den Ethnien, zwischen Nord und Süd, zwischen den Anhängern der islamischen Konfessionen Sunnismus und Schiismus, zwischen Stadt und Landbevölkerung et cetera haben sich verschärft und werden instrumentalisiert von Menschen, die sich in Stellung bringen für die Zeit nach dem Rückzug der ISAF.

Das Militär spricht von Erfolgen, Kollegen von mir sagen hingegen, die Lage werde immer schlechter. Oft werden Gebiete zwar militärisch erobert, können aber nicht gehalten werden. Ganze Regionen sind wieder zugänglich, in anderen Gegenden gibt es gar keine Fortschritte. Und die Afghanen wollen natürlich, dass alles ganz schnell besser wird. Jeder sieht die Lage aus seiner Perspektive, deshalb gibt es so große Unterschiede in der Bewertung und es ist schwer zu sagen: So ist die Lage in Afghanistan.

Hochzeiten als Disco-Ersatz

Wir "Westler" können von den Afghanen viel lernen. Die Hilfsbereitschaft und Großzügigkeit in der Familie, unter Freunden und Kollegen ist beispiellos.

Kerstin Lepper mit Kollegen in einem Minibus - in Afghanistan passen bis zu 30 Leute in so ein Gefährt. Foto: Lepper

Ein Großteil des Gehalts wird weitergegeben, wenn jemand in Not ist. Als die langjährige Putzfrau einer deutschen Organisation starb und mehrere kleine Kinder hinterließ, sammelte die Belegschaft. Die Afghanen gaben mehrere hundert Dollar, die deutschen Manager jeweils zehn.

Hochzeiten werden groß gefeiert, es werden mindestens 1.000 Gäste in eine "Wedding Hall" eingeladen und die Kosten belaufen sich bei Afghanen der Mittelschicht schon mal auf 15.000 Dollar. Hochzeitsfeiern sind eine Art Disco-Ersatz, wo auch getanzt werden darf – Männer und Frauen allerdings getrennt voneinander. Wenn junge Leute in Afghanistan nicht gerade arbeiten oder studieren, haben sie kaum eine Gelegenheit, sich außerhalb der Familie aufzuhalten.

Auf Wiedersehen, Afghanistan!

Viele afghanische Kollegen wurden Opfer von Anschlägen. Das liegt auch daran, dass sie in Gegenden unterwegs sind, die kein Ausländer betreten kann. Augenzeugen, Familien, Freunde bleiben zurück und müssen damit fertig werden, psychologische Hilfe gibt es für sie nicht. Dabei hat nicht jeder Anschlag einen politischen Hintergrund. Es kann auch um Rache gehen für eine Entlassung, Streit um Lohn, Wut, weil ein anderes Dorf den Zuschlag für ein Hilfsprojekt bekommen hat, angebliches moralisches Fehlverhalten. Es gibt viele Gründe.

Mit meinen männlichen afghanischen Kollegen hatte ich keine Probleme, sie akzeptierten mich, obwohl ich eine Frau bin. Entscheidend ist, ob man erfahren und kompetent wirkt. Allerdings dauert es seine Zeit, bis man von Afghanen akzeptiert wird. Aber dann hat man Freunde fürs Leben gefunden. Nur mit Mühe kann ich meine ehemaligen Kollegen davon abhalten, mich regelmäßig anzurufen – egal, wo ich gerade bin. Ich wäre den ganzen Tag am Telefon.

Ich werde das Land womöglich bald verlassen und nur noch aus der Ferne beobachten. Was ich mitnehme, sind vor allem Bilder von Afghanen, die ich nie vergessen werde: meinen immer strahlenden Fahrer in Mazar, meine frühere Assistentin, die gerade ihre eigene NGO aufbaut, viele mutige junge Frauen, die sich für die Gesundheit ihrer Landsleute einsetzen. Auch der evangelische Militärpfarrer bleibt mir in Erinnerung, mit Humor, Gitarre und Bratwurst war er für alle da. Beeindruckt haben mich die Soldaten der Bundeswehr, die ich in Mazar kennengelernt habe, ihre Disziplin, ihre Aufrichtigkeit und ihr Wille, dem Land zu helfen. Und ich denke oft an meine Kollegen, die getötet wurden.


Kerstin Lepper wohnt seit fünf Jahren in Afghanistan und arbeitet dort für verschiedene Entwicklungshilfeprojekte. Ihr Bericht ist erschienen im "JS-Magazin. Die Evangelischen Zeitschrift für junge Soldaten", Dezember 2011, und wird hier mit freundlicher Genehmigung von JS und der Autorin wiedergegeben.