Wikileaks-Informant vor Gericht: "30 Jahre Haft reichen"

Wikileaks-Informant vor Gericht: "30 Jahre Haft reichen"
Der spektakuläre Prozess gegen Bradley Manning, der Hunderttausende vertrauliche Botschafts-Depeschen an die Enthüllungsplattform Wikileaks weitergab, geht in die entscheidende Phase. Im schlimmsten Fall drohen dem Angeklagten 50 Jahre Gefängnis.
23.12.2011
Von Max Böhnel

Am Donnerstagnachmittag punkt 14 Uhr wurden die Medienvertreter mit militärischer Strenge aus Fort Meade geleitet. Der Angeklagte Bradley Manning, der sich zum ersten Mal seit seiner Verhaftung im Mai 2010 wieder der Öffentlichkeit zeigen durfte, befand sich zu dem Zeitpunkt längst wieder in irgendeinem Verließ. Er sagte nichts während der Verhandlungen.

Fünf Tage lang hatten hier unweit der Hauptstadt Washington D.C. unter scharfen Sicherheitsvorkehrungen Anhörungen stattgefunden. In den Vorverhandlungen sollte geklärt werden, ob gegen den 24-jährigen Armee-Abwehrspezialisten ein militärisches Hauptverfahren eröffnet wird. Um zu einer entsprechenden Empfehlung zu kommen, muss sich der zuständige Untersuchungsrichter Paul Almanza bis Mitte Januar durch Tausende von Dokumenten arbeiten.

Entscheidet er, dass die Beweislage gegen den 24-Jährigen ausreicht, droht Manning lebenslängliches Gefängnis ohne Aussicht auf ein vorzeitiges Haftende sowie die unehrenhafte Entlassung aus dem Armeedienst. Nach US-Militärgesetz könnte gegen den Obergefreiten wegen "Spionage" und "Unterstützung des Feindes" auch die Todesstrafe verhängt werden, worauf die Staatsanwälte jedoch erklärtermaßen verzichten.

Größter Geheimnisverrat der Militärgeschichte

Es war kein Zufall, dass die Anhörungen ausgerechnet in Fort Meade stattfanden. Das Armeegelände, das etwa 40 Kilometer nördlich der US-Hauptstadt Washington D.C. liegt, beherbergt das Hauptquartier des weltweit größten Geheimdienstes, der "National Security Agency". Ihr Kürzel NSA wird auch als "no such agency" bezeichnet – so geheimnisumwittert und geheimkrämerisch ist sie.

Bradley Manning soll geheimes Armeematerial an die Aufklärer-Webseite Wikileaks weitergeben haben. Zu den veröffentlichten Dokumenten gehört das erschütternde Video des Massakers einer USA-Hubschrauberbesatzung an Zivilisten in Bagdad vom Juli 2007, das als "Collateral Murder" um die Welt ging. Darüber hinaus geht es um weitere Filmaufnahmen aus dem Irak und Afghanistan sowie um die mehr als 250.000 Wikileaks-Botschaftsdepeschen, die es zu weltweiter Bekanntheit brachten. Aus der Sicht der amerikanischen Eliten aus Militär und Regierung, einschließlich US-Präsident Barack Obama, ist Bradley Manning ohne jeden Zweifel schuldig Es handelt sich immerhin um den größten und umfangreichsten Geheimnisverrat der amerikanischen Militärgeschichte.

Die Vorverhandlungen waren formal "öffentlich", solange im Gerichtssaal über nicht-geheimes Material gesprochen wurde. Den Massenmedien, die über die Anhörungen berichteten, wurden allerdings strenge Auflagen verordnet. Liveübertragungen aus dem Gerichtssaal sind untersagt, ebenso wie Telefonate oder Internet-Kontakt. Immer wieder wurden die Pressevertreter, wenn es vor Gericht um die "nationale Sicherheit" ging, von Uniformierten aus dem Saal eskortiert.

Befangenheitsantrag abgeschmettert

Zum Auftakt der Vorverhandlung hatte Bradley Mannings Hauptverteidiger David Coombs den Untersuchungsrichter direkt wegen "Befangenheit" angegriffen und ihn zum Rücktritt aufgefordert. Denn Almanza ist in seinem zivilen Leben auch Ankläger für das Justizministerium, das gleichzeitig ein Ermittlungsverfahren gegen den Wikileaks-Gründer Julian Assange führt. Doch Coombs' Befangenheitsantrag wurde nicht entsprochen. Ein Interessenkonflikt bestehe nicht, befand das Gericht nach einer Beratung.

Auch wenn die Pressevertreter nicht den gesamten Verlauf mitverfolgen durften, wurden trotzdem die Strategien der Anklage sowie der Verteidigung deutlich. Die Ankläger des Pentagons setzen auf Indizien, die sie mit den schlimmstmöglichen Wertungen versehen. Manning habe die Informationen bewusst preisgegeben, um Al-Kaida gegen die USA zu helfen, heißt es an einer Stelle.

Tatsächlich ist die Beweislage gegen Manning erdrückend. Mit einem ihrer wichtigsten Beweisstücke versuchen die Strafverfolger nachzuweisen, dass es eine Verbindung zwischen Bradley Manning und Wikileaks gab – das Protokoll eines Internetchats zwischen Manning und dem Hacker und FBI-Informanten Adrian Leno. Darin soll der Angeklagte unter dem Kürzel "Bradass87" gegenüber Leno erläutert haben, weshalb er die Dokumente an Wikileaks weitergab.

Als Abhörspezialist psychisch ungeeignet?

"Das sind Dinge, die in die Öffentlichkeit gehören. Ich hoffe, dass sie eine Diskussion und Reformen auslösen", soll Manning darin unter anderem geschrieben haben. Außerdem behaupten die Ermittler, sie hätten Beweise für den direkten Kontakt Mannings zu Wikileaks-Gründer Julian Assange. Die Auswertung der durchsuchten Computer von Bradley Manning habe auch ergeben, über welche Passwörter er Wikileaks die Dokumente hatte zukommen lassen.

Mannings Hauptanwalt Coombs versuchte dagegen, Manning mit einer Doppelstrategie zu entlasten. Der 24-jährige sei wegen seiner Homosexualität und seinem Wunsch nach einer Geschlechtsumwandlung emotional angeschlagen und für den Dienst als Abhörspezialist der US-Armee im geheimen SIPRNet nicht geeignet gewesen. Mannings Vorgesetzte hätten entsprechende Ratschläge von Psychologen aus den eigenen militärischen Reihen ignoriert.

Zudem, so Coombs, habe die Disziplin in Mannings Abhöreinheit im Irak zu wünschen übrig gelassen. So seien geheime Passwörter Klebezetteln an Computerbildschirmen zu entnehmen gewesen. Allerdings versuchte Coombs zu keinem Zeitpunkt, den Vorwurf zu entkräften, Manning sei nicht für die Weitergabe der Dokumente verantwortlich. In seinem Abschlussplädoyer am Donnerstag ließ er den Satz fallen, "30 Jahre Haft reichen". Wenn sich das Gericht allen 22 Punkten der Anklage anschließt, hätte Manning mit 50 Jahren Haft zu rechnen.

"Der Welt einen großen Dienst erwiesen"

Coombs hatte ursprünglich eine Liste von 48 Zeugen vorgelegt, die zur Entlastung seines Mandanten beitragen sollten. Doch der Untersuchungsrichter Paul Almanza ließ davon nur zwei zu. Dagegen wurden alle 20 der von der Strafverfolgung vorgeschlagenen Belastungszeugen angehört. Coombs hatte unter anderem USA-Präsident Barack Obama und den Ex-Pentagonchef Robert Gates als Zeugen vorladen wollen. Sie hätten über das im Wahlkampf vor drei Jahren versprochene "System der Transparenz" und die dann erfolgten Geheimhaltungsmaßnahmen der Regierung sprechen sollen.

Die Medienvertreter im Gerichtssaal erlebten Bradley Manning, wie er in Armeeuniform gekleidet und mit Hornbrille das Prozedere aufmerksam verfolgte und stetig mitschrieb. Davon existiert wegen der Militärzensur kein veröffentlichtes Bild. Stattdessen fertigten Pressevertreter Zeichnungen an. Vor den Einfahrtstoren von Fort Meade demonstrieren täglich bis zu 200 Menschen für die Freilassung von Manning. Das Verfahren müsse sofort eingestellt werden, sagte beispielsweise der Watergate-Whistleblower Daniel Ellsberg. Bradley Manning habe den USA und der Welt einen großen Dienst erwiesen, indem er die Machenschaften des Pentagons und Kriegsverbrechen aufdecken half.


Max Böhnel arbeitet als freier Journalist in New York.