Ein türkischer Christ, der dazugehören will

Ein türkischer Christ, der dazugehören will
Als einer von hunderttausenden Türken kam Jorgos Valasiadis in den Sechziger Jahren nach Deutschland. Doch er kam nicht - wie die meisten anderen - weil er Arbeit suchte. Valasiadis gehörte in seiner Heimat einer Minderheit an und war Schikanen ausgesetzt: Er ist orthodoxer Christ.
25.10.2011
Von Canan Topçu

Jorgos Valasiadis kam mit dem Zug nach Deutschland. Wie hunderttausende von türkischen Arbeitsmigranten. An die Reise hat er keine genauen Erinnerungen mehr. "Das ist zu lange her", sagt der 71-Jährige. Als junger Mann machte er sich 1964 auf den Weg nach Almanya. Ein typischer Gastarbeiter aus der Türkei ist der grauhaarige Herr mit markantem Gesicht aber nicht. Auch ist er kein typischer Türke, obwohl er dort zur Welt kam – wie schon seine Vorfahren. "Für die wenigen auf Gottes Erden, die mich nicht kennen: Ich stamme aus Tatavla, einem Stadteile des alten Konstantinopel, des heutigen Istanbul, welcher nach dem großen Brand im Januar 1929 in 'Kurtulus – Befreiung' unbenannt wurde."

Der Grund dafür, seiner geliebten Heimatstadt Istanbul den Rücken zu kehren, hat nichts mit der ökonomischen Not zu tun. Mit Not aber schon. "Und wie wohl ich mächtig stolz bin, dass ich in diesem Viertel von Istanbul das Licht der Welt erblickte und aufwuchs, bin ich in den Sechzigern, nach Deutschland, genauer gesagt (...) nach Frankfurt am Main ausgewandert. Erster Grund: mein ungezügelter, ja rebellischer Geist und zweitens: die erdrückende, unerträgliche politische Atmosphäre in der Türkei", wie er in seinem autobiografischen Buch "Und über Tatavla fällt Schnee" festgehalten hat. Doch dazu später.

Valasiadis hat die Nase voll und setzt sich in den Zug

Der junge Jorgos packt seinen Koffer, kehrt Istanbul den Rücken und erklärt es heute so: "Weil dort eine sehr feindliche Stimmung gegen uns herrschte. Wir waren nicht erwünscht." Wir, das sind die so genannten Rum, die griechisch-orthodoxe Minderheit, Nachfahren der Byzantiner. Die Rum sind in ihrer Heimat Türkei immer wieder Schikanen ausgesetzt, dazu gehören im Istanbuler Stadtteil Beyoglu die Plünderungen der Geschäfte von ethnischen Minderheiten. Die pogromartigen Überfälle vom 6./7. September 1955 bedeuten eine Zäsur im Leben dieser Bevölkerungsgruppe. Viele verlassen kurz danach das Land.

Neun Jahre später wird im Zuge der Zypernkrise Menschen wie ihm wieder einmal das Leben in der Türkei schwer gemacht, tausende werden aufgefordert, binnen einer Woche das Land zu verlassen. Valasiadis hat endgültig die Nase voll, er setzt sich in den Zug, der ihn in drei Tagen vom Istanbuler Bahnhof Sirkeci über München nach Frankfurt bringt. Trotz aller Widrigkeiten, dazu gehört die Angst, in der Öffentlichkeit die eigene Sprache – Rumca - zu sprechen, liebt er seine Geburtsstadt, sein multi-ethnisches und multireligiöses Viertel, in dem Juden, Rum, Armenier und andere Minderheiten leben. Und so verlässt er Istanbul schweren Herzens.

Valasiadis wuchs mit Rumca auf, ein Potpourri aus Griechisch, Türkisch, Italienisch und Französisch; gelernt hat er diese Sprache in der Schule. Denn nach dem Abkommen von Lausanne, der nach dem Ersten Weltkrieg den Status der Minderheiten in der Türkei regelte, durften die Rum eigene Schulen betreiben. Seine Muttersprache blieb Valasiadis auch in der Migration treu: Auf Rumca hat er seine Erinnerung an die Kindheit und Jugend, an schöne und traurige Ereignisse in Istanbul festgehalten, um dieses im Aussterben begriffene Idiom zu konservieren. Das Buch erschien 2002 in Griechenland und Zypern, 2005 in türkischer Übersetzung und 2008 unter dem Titel "Und über Tatavla fällt Schnee" auch auf Deutsch.

Keine Probleme zu sagen, dass er Deutscher sei

Nach Frankfurt kommt Valasiadis über private Verbindungen, dank seiner Französisch- und Englischkenntnisse fällt ihm das Einleben nicht so schwer wie den meisten türksichen Gastarbeitern. Der Kosmopolit findet zunächst eine Arbeitsstelle in einem Tachometerwerk. Er besucht abends die Berufsschule und wird Büro- und dann Industriekaufmann. Es folgt ein Studium an der Akademie für Welthandel – damals angesiedelt an der Goethe-Uni. Aus dem Emigranten wird schließlich ein Welthandelswirt.

Inzwischen Valasiadis 71-Jahre alt und pensioniert. Deutschland ist ihm längst zur Heimat geworden. Im Gegensatz anderen Migranten aus der Türkei hat er keine Probleme zu sagen, dass er Deutscher sei. Und dies nicht alles wegen der Staatsbürgerschaft, die er bereits 1975 annimmt. Auch mit dieser Entscheidung unterscheidet sich der gebürtige Istanbuler von all den anderen, die seit dem Anwerbeabkommen von Oktober 1961 aus der Türkei nach Deutschland kamen. Bis in die 1990er Jahre sind nämlich Einbürgerungen bei Türken eine Ausnahme.

Trotz der unerfreulichen Ereignisse in der Türkei ist ihm die Liebe zu diesem Land nicht abhanden gekommen. Valasiadis reist immer wieder dorthin. Am Bosporus hört er seine Sprache aber kaum mehr. Nicht mehr als 2000 Menschen sind übrig geblieben von der einst zahlreichen griechischstämmigen Bevölkerung Istanbuls. Traurig ist das, aber nicht zu ändern. Valasiadis ist ein pragmatischer Mensch, Sentimentalität scheint er sich nicht einzugestehen. Und er ist ein politisch interessierter Bürger, verfolgt die gesellschaftliche Entwicklung in der Türkei und Deutschland und stellt rückblickend einen markanten Unterschied fest, ohne ihn zu kommentieren. "Dort wollten die Minderheiten dazu gehören, durften es aber nicht. Hier werden sie geradezu dazu ermuntert, sie wollen es aber nicht."


Canan Topçu ist Journalistin und widmet sich seit vielen Jahren den Themen Migration, Integration und Islam. Sie lebt in Hanau und arbeitet für unterschiedliche Medien.