Chaos oder Kompromiss: Wie geht es weiter in Nahost?

Chaos oder Kompromiss: Wie geht es weiter in Nahost?
An diesem Freitag ist der Tag der Entscheidung: Palästinenserpräsident Abbas muss abwägen, ob er alle Drohungen ignoriert und wirklich einen Antrag auf Vollmitgliedschaft eines Staates Palästina stellt. Israel macht sich vor dem historischen Antrag auf das Schlimmste gefasst. Tausende von Sicherheitskräften sind im Einsatz, um Unruhen im Westjordanland und Ost-Jerusalem zu verhindern.
23.09.2011
Von Gisela Ostwald und Chris Melzer

Israels Sicherheitskräfte sind vor dem erwarteten Antrag von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas auf UN-Vollmitgliedschaft in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt worden. Etwa 22.000 Sicherheitskräfte sind im Einsatz, um auf mögliche Unruhen reagieren zu können, wie der israelische Polizeisprecher Mickey Rosenfeld am Freitag sagte, Schwerpunkt seien dabei das Westjordanland und der arabische Ostteil Jerusalems. "Wir hoffen, dass Demonstrationen friedlich verlaufen", sagte Rosenfeld.

Abbas wollte am Freitag trotz einer Vetodrohung der USA die Aufnahme eines unabhängigen Staates Palästina in den Grenzen vor dem Sechstagekrieg von 1967 als UN-Vollmitglied beantragen. Der Antrag gilt als chancenlos, Abbas will damit jedoch ein Zeichen setzen. Die Palästinenser sind nach zwei Jahrzehnten fruchtloser Friedensbemühungen frustriert und wollen mit dem Vorstoß neue Bewegung in Nahost bewirken.

Der Antrag soll gleich nach der mit Spannung erwarteten Rede des Palästinenserführers vor der Vollversammlung bei den UN eingereicht werden. Kurz nach Abbas steht auch der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu auf der Rednerliste der UN-Vollversammlung.

Gewalt oder Frieden? 

In Israel wird befürchtet, dass friedliche Demonstrationen später in Gewalt umschlagen könnten. Wütende Palästinenser verbrannten am Donnerstag in Ramallah Bilder von US-Präsident Barack Obama nach dessen israelfreundlicher Rede. Nach dem französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy plädierte auch Bundesaußenminister Guido Westerwelle für einen konkreten Fahrplan, der zu neuen Friedensverhandlungen führen soll.

Aus Furcht vor Konfrontationen erlaubte die Polizei am Freitag nur Männern über 50 mit israelischer Identitätskarte den Zugang zum Tempelberg in Jerusalems Altstadt. Muslime verehren ihn als "Haram al Scharif" (Edles Heiligtum). Die Sicherheitskräfte bereiteten sich darauf vor, nach den Freitagsgebeten Ausschreitungen zu begegnen. "Wir wollen in Jerusalem heute für Ruhe sorgen", sagte Rosenfeld.

Der israelische Generalstabschef Benny Ganz hatte am Donnerstag gesagt, die Armee sei auf Ausschreitungen in den Palästinensergebieten vorbereitet. Gleichzeitig betonte er: "Bisher hat sich die Palästinensische Autonomiebehörde darum bemüht, die Vorfälle unter Kontrolle zu halten, und ich hoffe, dass sie dies auch in den kommenden Tagen tun wird." Es gibt zwar keine konkreten Hinweise auf geplante Gewaltaktionen. Israelische Geheimdienstkreise schließen aber nicht aus, dass Palästinenser und israelische Siedler aneinandergeraten könnten.

Die radikalislamische Hamas hatte für Freitag zu einem "Tag des Zorns" im Westjordanland aufgerufen. Es wird aber bezweifelt, dass sie über ausreichend Unterstützung verfügt. Die Hamas beherrscht seit 2007 den Gazastreifen. Im Westjordanland, wo die Palästinensischen Autonomiebehörde und die Fatah von Abbas das Sagen haben, ist sie schwach.

Obama: "Die Wahrheit ist, dass jede Seite ein Recht hat"

Wie schwierig der Nahostkonflikt ist, sehen auch erstaunte New Yorker derzeit an der 47. Straße. Ein paar Minuten von den Vereinten Nationen entfernt protestieren ein paar Dutzend Juden - gegen Israel. Die Orthodoxen wollen keinen jüdischen Staat vor einer Ankunft des Messias, gleichzeitig fordern sie aber die "Befreiung" der Region von den Palästinensern. Der Konflikt ist festgefahren, im Nahen Osten ebenso wie in New York, das derzeit mit der UN-Vollversammlung wieder die Welthauptstadt der Politik ist. Kompromissvorschläge gibt es, doch es regieren vor allem Emotionen. 

Der Standpunkt der USA: Kein Palästinenserstaat, solange es keine Friedenslösung mit Israel gibt. "Die Wahrheit ist, dass jede Seite ein Recht hat", sagte Präsident Barack Obama am Mittwoch in der Vollversammlung, die Palästinenser das Recht auf einen Staat, die Israelis das Recht auf Sicherheit.

Der Präsident sitzt zwischen allen Stühlen. "Obama, Du Hinterhältiger, Du hast Dein wahres Gesicht gezeigt", stand in Ramallah auf einem Protestplakat nach der Rede. Und in den USA wettern radikale Juden, Obama lasse Israel im Stich. Was nutzt es da, dass israelische Medien von der bisher "zionistischsten" Rede Obamas sprechen und das "New York Magazin" ihm sogar per Fotomontage eine jüdische Kippa auf den Kopf setzt und als "derzeit besten Freund Israels" bezeichnet?

Zwei interessante Kompromissvorschläge

Dabei liegen durchaus Kompromissvorschläge auf dem Tisch. Einer kam inoffiziell: Die Palästinenser reichen ihren Antrag auf Vollmitgliedschaft am Freitag offiziell ein, bei den UN kommt er aber auf Wiedervorlage, bis eine zumindest grobe Einigung mit Israel erreicht ist. Der zweite Vorschlag kam von Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy, der umgehend neue Verhandlungen forderte. Außerdem sollen sich die Palästinenser vorerst nur mit einer Aufwertung ihres UN-Status' zum Beobachterstaat begnügen. Damit könnten sie sich immerhin in internationale Gremien wählen lassen und hätten in der Vollversammlung Rede-, wenn auch kein Stimmrecht.

Solch einen Status hat derzeit nur der Vatikan, aber auch die Bundesrepublik musste mehr als 20 Jahre damit leben, bevor sie 1973 Vollmitglied wurde. Deutschlands Außenminister Guido Westerwelle (FDP) drängt auf neue Friedensgespräche. Es wäre gut, wenn so schnell wie möglich ein Verhandlungsfahrplan auf den Tisch komme, der konkrete Fristen und Parameter enthalte, zitiert ihn ein Sprecher. Das Nahost-Quartett aus UN, EU, USA und Russland soll jetzt ran.

Problematische Erwartungen

Beide Kompromissvorschläge stießen in der Delegation der Palästinenser durchaus auf Interesse. Man sei flexibel, sagte Delegationssprecher Nabil Schaath. In erster Linie gehe es darum, auf das Schicksal der Palästinenser aufmerksam zu machen. Aber ohne den Antrag würde Abbas der Eindruck vermitteln, "dass wir es nicht ernst meinen".

Das Problem sind die Erwartungen. Nicht nur, dass die Palästinenser Grenzen fordern, auf die Israel mit seinem Siedlungsbau keine Rücksicht genommen hat. Nicht nur, dass die Israelis keine Bedingungen vor den Verhandlungen akzeptieren, aber zugleich den Palästinensern diktieren wollen, wie ihr Staat auszusehen hat. Es sind vor allem die Erwartungen der Palästinenser im Gazastreifen und Westjordanland, die eine volle, keine Kompromisslösung fordern. Entsprechend zweifelt keiner daran, dass Abbas am Freitag den Antrag auf Vollmitgliedschaft, trotz Vetodrohung und guten Zuredens der USA, einreichen wird. Wann der Stuhl mit der 194 tatsächlich besetzt wird, weiß hingegen noch niemand.

dpa