Kriegskinder brechen nach Jahrzehnten ihr Schweigen

Kriegskinder brechen nach Jahrzehnten ihr Schweigen
Die traumatischen Erlebnisse des Zweiten Weltkriegs wirken in den Überlebenden bis heute fort. Doch die Kinder von einst beginnen zu sprechen - und erfahren so auch ein Stück Heilung.
02.09.2011
Von Ulrike Millhahn

Bis heute achten sie darauf, dass ihre Teller leer gegessen sind. Sie mögen nichts wegwerfen, und viele können nachts nicht durchschlafen. Auch 72 Jahre nach dem Beginn des Zweiten Weltkrieges am 1. September 1939 toben die Schrecken von damals oft lautlos in den Seelen der damaligen Kriegskinder weiter. Ihre traumatischen Erlebnisse schildern Hannoveraner aus der Generation der 65- bis 80-Jährigen in "Im Krieg war ich noch klein", einem neuen Buch des Lutherischen Verlagshauses in Hannover.

Heilsames Sprechen

Autorin ist die Psychotherapeutin Anette Winkelmüller, die viele Leidtragende behandelt hat. Vor zwei Jahren bot sie deshalb in Hannover das Seminar "Kriegskinder erinnern sich" an. "Es war, als würde eine lange verschlossen gehaltene Tür aufgestoßen", sagt die 74-Jährige. Eine große Gruppe Betroffener begab sich ein Jahr lang auf Spurensuche. Die Teilnehmer schrieben ihre Biografien auf, die in dem Buch dokumentiert werden.

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"Die Kriegskinder haben jetzt, am Ende ihres Lebens, das große Bedürfnis zu reden", erläutert Winkelmüller, die noch heute bei Sirenenalarm erschaudert. An den Einzelschicksalen sei das vergangene Leid eindrucksvoll abzulesen. So schildert Hannovers ehemaliger Stadtsuperintendent Hans Werner Dannowski im Vorwort einen Flüchtlingstreck über die zugefrorene Ostsee im Februar 1945, den er als Elfjähriger erlebte.

"Durch Artilleriebeschuss und russische Tiefflieger war dieser Marsch die Hölle. Leichen und Pferdekadaver überall, Menschen, Pferde und Wagen versanken in Eis, Todes- und Entsetzensschreie von allen Seiten. Dazwischen dieser elfjährige Junge, der - ohne Handschuhe, mit blau gefrorenen Händen - offenbar verbissen mit seiner Schwester und der 'Erna' den Wagen zog, auf dem Mutter saß, die nicht mehr laufen konnte."

Leben mit der Last der Vergangenheit

Die traumatischen Ereignisse kennt er nur durch die Erzählungen von Menschen, die dabei waren, schreibt er: "Dieser Tag ist für mich wie ausgelöscht." Für Dannowski ist dies gleichermaßen erschreckend wie beruhigend. Doch, was er als "Wohltat des Vergessenkönnens" bezeichnet, bleibt für viele aus seiner Generation ein nie enden wollender Alptraum.

"Der Krieg schreibt sich tief in den Körper ein", sagt Winkelmüller und zählt Symptome auf: schwere Depressionen, Panikstörungen, Rückzugstendenzen, Misstrauen, Ess- und Schlafprobleme oder Schmerzen ohne Befund. Etwa zweieinhalb Millionen der über 60-Jährigen in Deutschland leiden einer Studie zufolge unter den Spätfolgen.

Sie brauchen nach Auffassung der Kölner Kriegskinder-Expertin Sabine Bode vor allem eines: Trost. "Wir haben die Aufgabe, diese Menschen in ihrem Leid und ihrer Lebensleistung wahrzunehmen", sagt die Journalistin, die vier Bücher zu dem Thema geschrieben hat.

Die 64-Jährige appelliert sowohl an die Kirchen, den Betroffenen spezielle Seelsorgeangebote zu machen, als auch an die Gesellschaft: "Wir müssen dafür sorgen, dass die Kriegskinder noch letzte gute Jahre haben. Es stirbt sich nicht so leicht mit dieser unbewältigten Last aus der Vergangenheit."

Spuren bei den Kindern der Kinder

Ängste und Belastungen haben längst ihren Weg über die Generationengrenze hinweg gefunden. Der 1939 geborene Journalist und evangelische Theologe Curt Hondrich aus Leichlingen im Rheinland sagt in einem Interview: "Wir haben unsere Traumatisierung, weil wir selber damit nicht fertig werden konnten, unseren Kindern weitergegeben - wohl bemerkt unbeabsichtigt und unbewusst - und nun geht es dort weiter."

Diese Erfahrung hat auch Anette Winkelmüller in ihrer Praxis gemacht. Immer mehr "Kriegsenkel" suchten mit der Zeit therapeutische Hilfe. Die zwischen 1960 bis 1975 Geborenen seien trotz guter Lebensbedingungen häufig verunsichert, litten unter Bindungsstörungen und seien viel zu sehr mit der Loyalität und Fürsorge ihren Eltern gegenüber beschäftigt. Dadurch versäumten sie häufig das eigene Fortkommen.

Die Therapeutin ist sich sicher: "Wenn nicht erzählt wird, wie es wirklich war, frei von Ängsten, Vertuschungen und Ressentiments, dann wird die Weitergabe verzerrter Ansichten und Traditionen in den Generationen fixiert."

Literatur: Anette Winkelmüller: Im Krieg war ich noch klein. Erinnerungen an den 2. Weltkrieg, Lutherisches Verlagshaus Hannover 2011, 128 S., 16,90 Euro

epd