Getto-Chronik im Radio: "Nachrichten aus einer fernen Zeit"

Getto-Chronik im Radio: "Nachrichten aus einer fernen Zeit"
Ungewöhnliche Sendereihe beim hessischen Radiosender hr2-kultur: Seit dem 1. August laufen dort täglich Nachrichten aus einer fernen Welt. Die Chronik des Gettos Lodz wird vorgelesen: Texte aus den Jahren 1943 und 44, die vom Leben der rund 200.000 Juden in dem polnischen Getto erzählen.
09.08.2011
Die Fragen stellte Anne Kampf

Journalisten und Schriftsteller hielten von 1941 bis 44 jeden Tag schriftlich fest, was sich im Getto ereignete. Geburten, Todesfälle und Erkrankungen wurden vermerkt, ebenso der Stand der Nahrungsmittelversorgung und die Stimmung in den Arbeitsbereichen. Die Chronik des Gettos Lodz wurde erst 2007 als Buch veröffentlicht. Jetzt sind die Texte multimedial zugänglich: In einem virtuellen Museum der Universität Gießen und hörbar auf hr2-kultur. Ein Jahr lang werden die Aufzeichnungen aus dem letzten Jahr im Getto täglich im Radio vorgelesen. Für den Leiter der hr2-Literaturredaktion Alf Mentzer ist die Chronik des Gettos Lodz ein ungewöhnliches, ganz und gar nicht alltägliches Projekt - obwohl es um den Alltag im Getto geht.

Herr Mentzer, als Sie die Berichte aus dem Getto Lodz zum ersten Mal gelesen haben - was ging Ihnen da durch den Kopf?

Alf Mentzer: Dass es ebenso unbekannt wie fesselnd ist. Das sind einzigartige Zeugnisse, sowohl was den Inhalt, als auch was die Überlieferung angeht. Die wurden ja damals während der Auflösung des Gettos in einem Brunnen versteckt, dann nach dem 2. Weltkrieg wieder gefunden und jetzt, im 21. Jahrhundert, tatsächlich erst einer allgemeinen Leserschaft zur Verfügung gestellt. Diese Gettochronik gibt es ja schon seit 2007, da ist sie im Wallstein-Verlag erschienen, das sind so 2.500 Seiten.

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Das Projekt, in dessen Rahmen unsere Hörfunksendungen stattfindet, ist ein Projekt der Uni Gießen, das versucht, das letzte Jahr im Getto online zu Verfügung zu stellen und hörbar, nein: erlebbar zu machen. Das finde ich ein wirklich fesselndes Projekt, weil da plötzlich Menschen, die alle dieses Getto nicht überlebt haben, fast 70 Jahre später wieder hörbar werden, und zwar mit einer Intensität, die ich vorher nicht für möglich gehalten hätte.

Gab es in den Berichten ein Detail, das Sie besonders überrascht hat?

Mentzer: Was zunächst mal - wahrscheinlich zu Unrecht - verblüfft, ist, dass in diesem Getto täglich Kinder geboren wurden. Diese Tagesberichte fangen ja immer mit blanken Zahlen an: "Wieviele Getto-Insassen gab es? Wie war das Wetter? Wie viele Menschen haben geheiratet? Wieviele Todesfälle gab es, aber auch wie viele Geburten?" Es gab immer wieder Geburten, natürlich. Dieses Getto hat über Jahre existiert, und es musste so was wie ein Alltagsleben in diesen fürchterlichen Umständen geben.

Das beinhaltete eben auch Geburten, es beinhaltete auch Tode und Selbstmorde und Selbstmordversuche, von denen einfach immer nur ganz faktisch berichtet wird. Und dieser Konflikt zwischen grauenvollen, kaum vorstellbaren Umständen und einem alltäglichen Leben und den Menschen, die versucht haben, ein alltägliches Leben trotzdem weiter zu führen, das ist, glaube ich, eine der Grundspannungen in dieser Chronik.

Bisher lagen die Texte im Archiv beziehungsweise wurden vor vier Jahren als Buch veröffentlicht. Denken Sie, es wäre im Sinne der Schreiber gewesen, dass jetzt tausende hr-2-Hörer ihre Aufzeichnungen im Radio hören?

Mentzer: Ich glaube es tatsächlich. Also, es ist ein bisschen vermessen, zu mutmaßen, was die Intentionen der Schreiber damals waren, aber ihre ursprüngliche Absicht war eben, tagesaktuelle Berichte aus dem Gettoleben festzuhalten. Allerdings waren diese Berichte gar nicht für die damalige Leserschaft bestimmt. Sie waren nicht zur täglichen Publikation bestimmt, das wäre viel zu gefährlich gewesen, denn dann hätten die deutschen Besatzer ja Wind von diesem Projekt bekommen.

Nein, diese Tagesberichte waren wirklich für das Archiv geschrieben, und sie waren geschrieben, um späteren Generationen Einblicke in das Leben, in die Umstände, auch in das Sterben im Getto von Lodz zu bieten, so dass eben spätere Generationen nach dem Krieg und nach der NS-Herrschaft, nach dieser für die Juden so fatalen Situation davon erfahren würden. Und genau das machen wir ja. Für mich sind es Nachrichten aus einer fernen Zeit, die wir heute erst hören. Aber sie sollen eben gehört werden! Wir machen sie hörbar.

Sind die Texte überhaupt fürs Radio geeignet?

Mentzer: Wir bearbeiten sie ein bisschen. Wir haben sie gekürzt, so dass wir täglich so ein drei bis vier Minuten langes Format haben, weil das auch ungefähr das Format unserer täglichen Weltnachrichten bei hr2-kultur ist. Das war von uns auch durchaus beabsichtigt. Wir wollten diese Getto-Chroniken wirklich als eine Art Nachrichten aus einer fernen Zeit in unserem Programm aufscheinen lassen, und als solche sind sie nun auch da: Sie kommen an einer Stelle kurz vor den 13-Uhr-Nachrichten und werden gelesen von Sprecherinnen und Sprechern, die normalerweise unsere hr2-Nachrichten lesen.

So haben wir nun wirklich ein sehr spannungsreiches, wie ich finde auf den ersten Höreindruck vielleicht irritierendes - aber sehr produktiv irritierendes - Verhältnis zwischen Nachrichten aus dem Jahre 2011 und Nachrichten aus dem Jahre 1943/44. Diese Chronik des letzten Jahres, die bei uns in hr2-kultur hörbar wird, läuft ja vollkommen parallel zu den heutigen Daten. Sie werden also am 12. August 2011 den Tagesbericht vom 12. August 1943 hören und so weiter, bis zur Auflösung des Gettos am 31.7.1944, was dann eben bei uns der 31.7.2012 sein wird. Das heißt: Wir werden ständig diese Spannung im Programm haben, und das soll und wird den Hörern diese Gleichzeitigkeit des Ungleichen in der historischen Erfahrung vor Augen und - im Falle unseres Mediums - natürlich vor Ohren führen.

Haben schon Hörer darauf reagiert? Und wenn ja: Wie?

Mentzer: Wir haben keine Reaktionen von Hörern bekommen, die sagen: "Was macht ihr da? Wir verstehen es nicht, was soll das eigentlich überhaupt?" Wir haben einige Anfragen, die möchten gleich das Ganze auf CD gebrannt haben. Das werden wir nicht machen, weil ich glaube, unser Projekt lebt auch von dieser Konsekutivität, also dass es nacheinander kommt, dass man auch nach und nach den Fortschritt der Diskussionen im Getto mit vollziehen kann, die sich ja in diesen Chroniken abbildet. Man kann wirklich Tag für Tag die kleinen Entwicklungen nachvollziehen.

Wir stellen die Sendungen als Podcast zur Verfügung, so dass man wochenweise die Dinge bei uns nachhören kann. Ja, und es gibt erste Reaktionen von Hörern, die natürlich erst einmal erstaunt sind: Dass es dieses Getto gegeben hat, das hat man vielleicht gewusst. Aber dass es eine solche Chronik gab, dass sich wirklich im Getto Schriftsteller, Journalisten, Romanciers oder auch literarische Laien zusammengefunden und gesagt haben: "Wir wollen das dokumentieren", dass das überliefert ist, das hat kaum jemand gewusst, mich eingeschlossen. Das führt doch zu großem Erstaunen und auch zu großem Interesse.


Alf Mentzer ist Leiter der Literaturredaktion von hr2-kultur.