Jugendweihe: Ideologische Keule gegen die Kirchen

Jugendweihe: Ideologische Keule gegen die Kirchen
Bei keinem anderen Thema wird die mentale Spaltung Deutschlands in Ost und West so deutlich wie bei der Jugendweihe. Im Westen muss man häufig erklären, wieso es dieses Fest noch gibt. Im Osten muss man erklären, was es da zu erklären gibt. Schließlich hatte fast jeder entweder selbst Jugendweihe, oder aber er war häufiger im Bekanntenkreis eingeladen.
11.05.2011
Von Andreas Fincke

In den alten Bundesländern ist die Jugendweihe ein seltenes Ereignis. Lediglich in einigen traditionsreichen Arbeiterstädten wie Hamburg, Nürnberg oder Frankfurt am Main gibt es eine gewisse Tradition - mitunter, wie in Hamburg, schon seit über 120 Jahren. Denn die Jugendweihe ist keine Erfindung der DDR. Ihre Wurzeln liegen vielmehr in den 1850er Jahren. Anfang des 20. Jahrhunderts entdeckte die Arbeiterbewegung die Jugendweihe für sich und legte zunehmend Wert auf politische Bildung und Erziehung im Vorfeld der Feier.

In proletarisch geprägten Regionen wie etwa Leipzig erlangte diese Jugendweihe seinerzeit beachtliche Bedeutung. Nach der Machtergreifung Hitlers wurde Jugendweihe unterdrückt. Später versuchten die Nazis, sie für ihre Interessen zu instrumentalisieren. Nach 1945 erlebte die Jugendweihe in Westdeutschland eine wechselvolle Geschichte zwischen Duldung und Verbot. Nur langsam etablierte sich eine kleine, der freidenkerischen Traditionslinie verpflichtete Jugendweihe.

Bekenntnis zum Sozialismus

Im Gebiet der DDR nahmen die Dinge einen völlig anderen Verlauf: Nach anfänglichen Verboten wurde die Jugendweihe 1954 als "Bekenntnis zum Sozialismus" eingeführt. Flankiert wurden diese Maßnahmen von atheistischer Propaganda und erheblichem Druck auf die Schüler, sich "freiwillig" zu melden. Vorerst war das Echo jedoch bescheiden. Im September 1957 unterstrich Walter Ulbricht in einer berüchtigten Rede den atheistischen Charakter der Jugendweihe, die immer mehr zur ideologischen Keule gegen die Kirchen wurde.

1959 nahmen bereits rund 80 Prozent der Jugendlichen teil, später über 90 Prozent und in den letzten zehn Jahren der DDR etwa 97 Prozent der 14-Jährigen. So wurde die DDR-Jugendweihe zur Waffe gegen die volkskirchkirchliche Konfirmation: Deren Zahlen gingen von etwa 80 Prozent im Jahr 1950 auf knapp 15 Prozent 1989 stetig zurück. Man kann sagen: Mit dem Mauerbau 1961 war nicht nur die Machtfrage, sondern auch die Jugendweihefrage entschieden.

Die Geschichte der DDR-Jugendweihe kann jedoch nicht erzählt werden, ohne an die mitunter verzweifelte Gegenwehr von Kirchenleitungen, Pfarrern und Gemeindegliedern zu erinnern. Tausende von Jugendlichen haben mitunter schwere berufliche Benachteiligungen in Kauf nehmen müssen, weil sie sich dem Zwangsritual entzogen haben. Ohne Jugendweihe kein Studienplatz. Nicht wenige Familien sind vor dem Bau der Mauer auch wegen solcher Konflikte in den Westen geflohen. Die heute zu konstatierende Entkirchlichung Ostdeutschlands ist folglich auch eine Folge der Jugendweihe.

Kleinbürgerliches Familienfest

Jedoch änderte auch die DDR-Jugendweihe mit der Zeit ihren Charakter: Sie verlor ab den 1970er Jahren deutlich an atheistischem Profil und wurde zu einem janusköpfigen Massenphänomen: Sie war einerseits ein Unterwerfungsritual der Jugendlichen unter die Ideologie der SED, andererseits wurde die Jugendweihe immer mehr zu einem entpolitisierten Familienfest und einer privaten Familientradition. Binnen weniger Jahrzehnte wurde aus einem Ritual, das freigeistigen und aufklärerischen Idealen verpflichtet war, ein kleinbürgerliches Familienfest.

Seit dem Ende der DDR und mit der Wiedervereinigung 1989/90 überlagerten sich die beiden Jugendweihetraditionen: Die ehemals westdeutsche, überwiegend freidenkerisch geprägte Jugendweihe war 1989 quantitativ unbedeutend. Für die Veranstalter ergab sich die einmalige Gelegenheit, das Betätigungsfeld in die neuen Bundesländer auszuweiten und eine neue Klientel für ihre Jugendweihe zu finden. Völlig anders war die Situation für die früheren DDR-Jugendweiheveranstalter: Sie gerieten mit dem Untergang des SED-Staates zwar vorübergehend in Erklärungsnot, konnten sich jedoch vergleichsweise schnell neu positionieren.

Heute gibt es in Deutschland drei Jugendweihetraditionen: Die freidenkerische Tradition der Jugendweihe wird von den Deutschen Freidenkern fortgeführt und ist nahezu bedeutungslos. Die humanistische Linie wird vom Humanistischen Verband Deutschlands (HVD) vertreten. Er ist in Berlin und Brandenburg, in Nordrhein-Westfalen, in Niedersachsen sowie im Großraum Nürnberg tätig. Der HVD veranstaltet die sogenannten Jugendfeiern, die in der eigenen Werbung auch als "die andere Jugendweihe" bezeichnet werden. Lediglich 10 Prozent der Jugendweihen in Deutschland werden vom HVD ausgerichtet. Er erreicht folglich einige tausend Jugendliche jedes Jahr. Seine Jugendfeiern sind mit Vorbereitungsstunden verbunden, die von etwa jedem zweiten Jugendlichen auch tatsächlich besucht werden. Vermittelt werden humanistische Werte und weltanschauliche Orientierung, die freilich religions- und kirchenkritisch sind.

Große Infrastruktur im Osten

Der einflussreichste und wichtigste Anbieter von Jugendweihen in den neuen Bundesländern ist jedoch der Verein Jugendweihe Deutschland. Bis Dezember 2001 arbeitete er unter dem Namen "Interessenvereinigung für humanistische Jugendarbeit und Jugendweihe". Die Interessenvereinigung war 1990 gegründet worden und ist faktisch die Nachfolgeorganisation des ehemaligen DDR-Jugendweiheausschusses. So erklärt sich, dass man in den neuen Bundesländern über eine hervorragende Infrastruktur verfügt und viele Jahre ausschließlich hier tätig war. Die Namenskorrektur dürfte jedoch ein Hinweis darauf sein, dass man die Arbeit auch auf die alten Bundesländer ausweiten möchte. Weltanschaulich ist der Verein nicht festgelegt. Daher fragen einige Beobachter, ob diese Jugendweihe möglicherweise ein Ritual ohne Inhalt ist. Denn wer weiht hier wen – und worauf?

Schließlich: Warum ist die Jugendweihe noch heute in den neuen Bundesländern so beliebt? Die Jugendweihe ist Ausdruck einer positiv besetzten Familientradition. Sie wurde in der DDR fast vier Jahrzehnte lang gefeiert und hat somit zwei Generationen geprägt. Wenn heute junge Eltern ihre Kinder zur Jugendweihe anmelden, dann rechtfertigen sie damit auch ihre eigene Jugendweihe und ihre eigene Biographie. Es wäre jedoch zu einfach, wollte man die Beliebtheit der heutigen Jugendweihe allein aus ihrer Vergangenheit herleiten. Auch die neue Jugendweihe hat ihren eigenen Charme. Und der liegt in schöner Unverbindlichkeit. Während die Konfirmation als Taufbestätigung und Aufnahme in die Kirche verstanden wird, hat die Jugendweihe keine Konsequenzen. Die Jugendweihe zeigt, dass es einen Bedarf an Erhebung und feierlichem Ritualen gibt, den die Kirchen nicht (mehr) decken.

Rund 100.000 im Jahr

Viele Jahre betrug die Gesamtzahl der Jugendweihen in Deutschland etwa 100.000. Seit den Jahren 2005 und 2006 verzeichnen die Anbieter einen nennenswerten Rückgang, den sie auf den sogenannten Geburtenknick zurückführen, weil unmittelbar nach der Wende deutlich weniger Kinder geboren wurden. Dieser Hinweis ist sicher richtig. Aber der Geburtenknick allein erklärt die mancherorts drastische Abnahme nicht. In Berlin brach die Zahl der Jugendweihen vorübergehend deutlich ein.

Auffällig ist, dass die großen Anbieter - trotz wiederholter Nachfrage - keine bundesweiten Zahlen nennen. Vereinzelte Jubelmeldungen in ostdeutschen Zeitungen sind entweder nicht nachprüfbar, oder sie haben in Ermangelung von Vergleichszahlen keinen Wert. Vieles spricht dafür, dass die Jugendweihe derzeit an Zuspruch verliert. Vereinfacht kann man sagen, dass in den östlichen Bundesländern etwa 50 Prozent der Schüler der 8. Klasse zur Jugendweihe gehen. In Brandenburg liegt die Zahl etwas höher, in einigen Regionen Thüringens ist sie deutlich geringer. Die Zahl der Konfirmationen ist im Osten halbwegs gleichbleibend, mitunter sogar leicht steigend. Sie liegt hier bei etwa 15 Prozent. Bundesweit besucht etwa jeder dritte 14-Jährige die Konfirmation.


Andreas Fincke ist Theologe und Publizist in Berlin.