112 Tote an blutigem Freitag in Syrien

112 Tote an blutigem Freitag in Syrien
Syriens Präsident Assad hebt den verhassten Ausnahmezustand auf, lässt aber weiter auf Demonstranten schießen. Die Protestbewegung hat nach neusten Zählungen 112 Tote zu beklagen. Sie zeigte sich am Freitag machtvoller denn je.

Die Lage in Syrien droht außer Kontrolle zu geraten: Das Regime von Präsident Baschar al-Assad geht mit äußerster Brutalität gegen die immer machtvoller werdende Protestbewegung vor. Heckenschützen des Sicherheitsapparats töteten am Freitag nach Angaben syrischer Aktivisten 112 Demonstranten. In der Nacht war zunächst von mindestens 70 Toten die Rede gewesen. Mehr als 100.000 Menschen gingen im ganzen Land auf die Straße, um ein Ende der Gewaltherrschaft zu fordern. Der blutigste Tag seit Beginn der Proteste im Vormonat sah auch eine noch nie gesehene Zahl von syrischen Bürgern, die der tödlichen Gefahr trotzten und Menschenrechte einforderten.

In dem Gemetzel der Sicherheitskräfte geriet nahezu in Vergessenheit, dass Assad erst am Vortag den fast fünf Jahrzehnte geltenden Ausnahmezustand aufgehoben hatte. Auch andere Reformschritte wie die Abschaffung der berüchtigten Staatssicherheitsgerichte und der Erlass eines neuen Gesetzes zur Legalisierung von Demonstrationen wurden von den blutigen Realitäten dieses Freitags eingeholt und überschattet.

Heckenschützen in Zivil lauerten auf Dächern

Allein in der südlichen Stadt Asraa starben mindestens 18 Demonstranten. Darunter war ein einjähriges Kleinkind, wie eine Menschenrechtsanwältin in Damaskus sagte. In den Vorstädten von Damaskus wurden mindestens 7, in der nördlichen Stadt Homs 16 Menschen getötet. Hunderte Demonstranten erlitten Verletzungen, allein gut 100 in Homs.

Wo es Tote gab, war das Muster nach Augenzeugen-Berichte immer das selbe: Nicht Polizisten in Uniform feuerten die tödlichen Schüsse ab, sondern Heckenschützen in Zivil, die auf Hausdächern lauerten und willkürlich in die Menschenmengen schossen, um Panik und Furcht auszulösen. In Homs seien dadurch so viele Menschen verletzt worden, dass Ärzte unter den Demonstranten in den Gassen der Altstadt improvisierte Lazarette einrichteten, erzählte eine Augenzeugin der BBC.

Die Regimemedien bezeichneten die Heckenschützen als "unidentifizierte Bewaffnete". Etliche davon seien von den Sicherheitskräften festgenommen worden, meldete die staatliche Nachrichtenagentur Sana. Nach Einschätzung der Aktivisten sind aber die Heckenschützen Teil des mächtigen Geheimdienstes. Im Polizei- und Geheimdienst-Staat Syrien ist es unvorstellbar, dass sich Bewaffnete in einer derartigen Zahl und Koordinierung auf den Hausdächern in den Zentren der wichtigsten Städte einrichten können.

Opposition begrüßt Aufhebung des Ausnahmezustands

In Damaskus setzten die uniformierten Sicherheitskräfte Tränengas gegen die Kundgebungsteilnehmer ein, sagten Augenzeugen. Die Demonstranten wollten von mehreren Vorstädten aus ins Stadtzentrum vordringen, wurden aber von Polizei- und Geheimdienstaufgeboten mit Gewalt daran gehindert.

Syrische Oppositionskräfte hatten die Aufhebung des Ausnahmezustands und andere Reformmaßnahmen Assads zunächst vorsichtig begrüßt. "Es ist ein positiver Schritt, dessen Umsetzung aber genau zu beobachten ist", sagte der Chef der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte in London, Rami Abdul Rahman, am Donnerstag.

Tatsächlich kam der syrische Staatschef mit der Aufhebung des Ausnahmezustands einer zentralen Forderung der Demonstranten entgegen. Die kriegsrechtsähnliche Gesetzgebung hatte es dem Regime unter Assad und zuvor unter seinem Vater Hafis ermöglicht, Bürger willkürlich zu verhaften und jede politische Opposition mit behördlichen und geheimdienstlichen Mitteln zu verfolgen.

Assad zum Rücktritt aufgefordert

Vor den nunmehr abgeschafften Staatssicherheitsgerichten hatten die Angeklagten nur sehr eingeschränkte Verteidigungsmöglichkeiten. Zudem wurden ihnen in der Polizei- und Geheimdiensthaft, die diesen Prozessen vorausging, häufig Geständnisse unter Folter abgepresst. Doch wie die Eskalation der Gewalt am Freitag zeigte, dürften die neuen Maßnahmen des Präsidenten zu spät gekommen sein.

Denn die Gewalt der Sicherheitskräfte, der seit Beginn der Proteste nun schon rund 300 Menschen zum Opfer fielen, hat die Demonstranten radikalisiert. Verlangten die Proteste bislang nur echte Reformen und Freiheiten, so dominierten am Freitag bereits die Forderungen nach dem Rücktritt Assads und nach einem Regimewechsel.

Auch gingen die Demonstranten nunmehr gezielt gegen die Symbole der Assad-Diktatur vor. In Damaskus etwa wurde, wie auf Oppositions-Webseiten zu sehen war, eine Statue von Hafis Assad gestürzt und mit Füßen getreten. Der ältere Assad hatte mit seinem Putsch im Jahr 1963 die gegenwärtige Familienherrschaft begründet. Solche Szenen wären noch vor vier Wochen undenkbar gewesen, meinten Beobachter.

Ban und Obama verurteilten die Gewalt

UN-Generalsekretär Ban Ki Moon hat das Vorgehen der syrischen Sicherheitskräfte gegen regierungskritische Demonstranten verurteilt. Wie ein Sprecher Bans am Freitagabend (Ortszeit) in New York mitteilte, habe der UN-Generalsekretär ein sofortiges Ende der "anhaltende Gewalt gegen friedliche Demonstranten" gefordert, durch die erneut viele Menschen getötet und verletzt worden seien. Zugleich habe er die syrischen Behörden ermahnt, die Menschenrechte zu achten, insbesondere die Meinungs- und Versammlungsfreiheit sowie die Pressefreiheit. Zudem habe Ban eine unabhängige und transparente Untersuchungen der tödlichen Schüsse gefordert, so sein Sprecher weiter.

Auch US-Präsident Barack Obama hat das brutale Vorgehen syrischer Sicherheitskräfte gegen regierungskritische Demonstranten "aufs Schärfste" verurteilt. "Dieser ungeheuerliche Einsatz von Gewalt zur Unterdrückung der Proteste muss jetzt beendet werden", heißt es in der am Freitagabend (Ortszeit) in Washington verbreiteten Erklärung des Präsidenten. Obama bedauerte den Verlust von Menschenleben und sicherte den Angehörigen und dem syrischen Volk "in diesen schwierigen Zeiten" die Anteilnahme der US-Regierung zu.

Die Aufhebung des jahrzehntelangen Ausnahmezustandes und die Ankündigung der Regierung von Präsident Baschar al-Assad, friedliche Demonstrationen zulassen zu wollen, seien angesichts der brutalen Unterdrückung der Proteste nicht glaubhaft, erklärte Obama weiter. Assad und sein Regime hätten die Forderungen der Syrer nach Freiheit zurückgewiesen und ihre eigenen Interessen über die des Volkes gestellt. "Wir fordern Präsident Assad auf, seinen Kurs jetzt zu ändern und die Forderungen seines Volkes zu beachten", heißt es in der Erklärung weiter.

dpa