Vom Säen und Ernten in der Sperrzone

Vom Säen und Ernten in der Sperrzone
Die Ruine von Tschernobyl strahlt weiter - auch 25 Jahre nach der Explosion. Der Sarkophag um den zerstörten Reaktor bröckelt, und die Menschen in der Umgebung setzen sich weiterhin Gesundheitsgefahren aus. Viele verdrängen die Folgen der Katastrophe. Einer der Hauptverantwortlichen ist mittlerweile gestorben: Anatolj Djatlow. Er leitete an jenem 26. April 1986 einen riskanten Versuch in dem Kernkraftwerk.
20.04.2011
Von Martina Helmerich

Tschernobyl galt in der Sowjetunion als Musteranlage. Viele Ingenieure waren stolz darauf hier zu arbeiten. Die Zulagen waren üppig, die Technik war im Sowjetreich auf dem neuesten Stand. Anatolj Djatlow war der stellvertretende Chefingenieur in Block vier von Tschernobyl und hatte eine besonders Aufgabe. Er sollte bei einem Test prüfen, ob bei einem simulierten Stromausfall die Rotationsenergie der Turbine zur Stromerzeugung reicht, bis die Notstromaggregate hochgelaufen sind.

In der Nacht zum 26. April 1986 wurde das Experiment vorbereitet. Eine Kette von falschen Entscheidungen und Bedienungsfehlern führte jedoch dazu, dass der Reaktor in eine schwer behrrschbare Lage geriet. Das Schichtpersonal wollte den Test abbrechen und versuchte Djatlow davon zu überzeugen. Doch Djatlow trieb sie an mit den Worten: "Noch ein, zwei Minuten, und alles ist vorbei. Etwas beweglicher, meine Herren!"

Mehrfach tödliche Dosis

Djatlows Befehl hatte verheerende Folgen. Kurz nach ein Uhr nachts kommt es zu zwei Explosionen, bei denen Material aus dem Innern des Reaktors ins Freie geschleudert wird. Zwanzig Mal so viel Radioaktivität wie durch die Hiroshima-Bombe wird freigesetzt. Die Wucht der Detonation sprengt den Deckel des Reaktors ab und zerstört den oberen Teil des Reaktorgebäudes. Das Dach gerät in Brand. Im Innern setzt Kernschmelze ein.

Der zerstörte Reaktor kurz nach der Explosion (Foto: epd-bild)

Als ich Djatlow sechs Jahre nach der Katastrophe besuchte, wohnte er wie viele Evakuierte im Kiewer Stadtteil Trojeschtschina, einer Trabantenstadt mit hässlichen Hochhäusern. Djatlow hatte als sogenannter Tschernobyl-Liquidator eine der begehrten Wohnungen zugeteilt bekommen. Der große, hagere Mann wirkte 20 Jahre älter als er war. Der Ingenieur hatte eine unglaublich hohe Dosis an Radioaktivität abbekommen, die zweimal zum Sterben gereicht hätte. Djatlow hatte in den 60er Jahren Atomreaktoren in U-Boote eingebaut. Schon damals war es zu einem Unfall gekommen, bei dem er stark verstrahlt wurde. Er überlebte, aber sein kleiner Sohn starb an Leukämie.

Täter oder Opfer?

Trotz seiner tragischen Lebensgeschichte wirkte Djatlow nicht wie ein gebrochener Mann. Zwar klagte er über ein Geschwür am Bein – die verstrahlte Haut wollte nicht zuheilen. Viel mehr setzte ihm zu, als einer der Hauptverantwortlichen zum Sündenbock für die Atomkatastrophe gemacht zu werden. Man hatte ihn nach dem Unfall vor Gericht gestellt und für "kriminelles Leiten eines potenziell gefährlichen Versuchs" mit zehn Jahren Gefängnis bestraft.

"Nicht menschliches Versagen, war die Ursache, der Reaktortyp war fehlerhaft konstruiert", schrieb er in seinem Buch "Wie es war". Früher oder später habe es zur Katastrophe kommen müssen. Das war seine Version des Hergangs. Etwa ein Jahr nach meinem Besuch bei Djatlow erfuhr ich von seinem Tod. Er starb mit 64 Jahren nicht an den Folgen der Verstrahlung, sondern an Herzversagen. Djatlow – war er nun Täter oder Opfer, oder beides zugleich? Er hätte es in der Hand gehabt, den tödlichen Test abzubrechen. Hatte er innerlich geschwankt, als ihm die Mannschaft von der instabilen Lage des Blocks vier berichtete?

Große Regionen dauerhaft verstrahlt

Unfreiwillig zu Opfern wurden hunderttausende Soldaten und Freiwillige, die die Sowjetunion mobilisierte, um des Infernos Herr zu werden. Völlig unzureichend geschützt, teils mit bloßen Händen, teil mit Mundschutz aus Baumwolle riskierten sie Leben und Gesundheit. Die wenigsten waren mit einem Dosimeter ausgerüstet. 28 Rettungskräfte wie etwa die Feuerwehrleute, die bei mörderischer Strahlung auf dem Dach löschten, starben nach wenigen Tagen an Strahlenkrankheit. Die Mannschaften, die von Hubschraubern aus Sand und Blei auf den klaffenden Reaktor abwarfen, um die Strahlung zu ersticken, wurden extrem verstrahlt.

Erst nach zehn Tagen konnte die Freisetzung von radioaktiven Stoffen eingedämmt werden. Zehn lange Tage, in denen tausende Menschen in unmittelbarer Umgebung verstrahlt wurden und in denen sich eine radioaktive Wolke über Europa verteilte. Große Regionen in der Ukraine, Russland und Weißrussland wurden dauerhaft verstrahlt. Die gesundheitlichen Folgen sind verheerend: Mindestens 10.000 und bis zu 100.000 Todesfälle. Durch Tschernobyl stiegen Leukämieerkrankungen und Schulddrüsenkrebs vor allem bei Kindern in den verstrahlten Gebieten. 100.000 Menschen mussten umgesiedelt werden.

Die 30-Kilometer Zone um den Reaktor ist seit 1986 Sperrzone. Eigentlich sollte dort niemand leben, dem seine Gesundheit lieb ist. Eigentlich. Trotzdem gibt es hunderte Menschen, die in den verlassenen Dörfer zurückgekehrt sind. Oft sind es alte Leute, die man nach dem GAU in größere Städte umgesiedelt hatte. Viele hielten das Leben in den engen Wohnsilos nicht aus, kehrten zurück in ihre alten windschiefen Holzhäuser mit den Bauerngärten, wo sie Kartoffeln und Möhren anbauen und keine Fragen danach stellen, wie viel Cäsium 137 wohl in der Kohlsuppe steckt, die sie aus selbstgezogenem Gemüse kochen.

Der Sarkophag bröckelt

Die Hülle um den Unglücksreaktor, die in nur sechs Monaten Bauzeit von Bausoldaten des Ministeriums für mittleren Maschinenbau der Sowjetunion gebaut wurde, war ein Provisorium, gebaut für höchstens 30 Jahre. Schon in den ersten Jahren nach Fertigstellung wurden Baumängel sichtbar. Einem Erdbeben oder Sturm würde der Sarkophag nicht standhalten, ohne erneut Radioaktivität freizusetzen. Um dies zu verhindern und den Gefahrenherd hermetisch zu versiegeln, soll spätesten 2015 mit dem Bau einer neuen Schutzhülle begonnen werden. Die Pläne eines "New Safe Confinement", einem neuen sicheren Behälter, sind fertig. Es fehlt nur noch das Geld.

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Seit Jahren pokert die Ukraine um einen möglichst hohen Einsatz westlicher Geberländer, denn der Bau wird die gewaltige Summe von 1,6 Milliarden Euro verschlingen. Gewaltig sind auch seine Ausmaße. Das 110 Meter hohe Gebäude wäre groß genug, die New Yorker Freiheitsstatue zu verschlucken. Das Projekt ist hochkompliziert. Um die Bauarbeiter möglichst wenig Strahlung auszusetzen, werden Segmente der neuen Hülle zuerst neben dem Sarkophag errichtet, um sie dann darüber zu schieben. Dafür braucht man eine ebene Plattform. Doch auch das Baugelände ist verstrahlt und muss erst dekontaminiert werden.

Tschernobyl ist inzwischen auch zum Wirtschaftsfaktor und Touristenziel geworden. Obwohl das Kernkraftwerk keinerlei Strom produziert, arbeiten über 7000 Menschen in der Tschernobyl-Zone. Sie verwalten die Hinterlassenschaft der Atomkatastrophe. Sie kontrollieren den Verkehr, sie messen und überwachen den Zustand des Unglücksreaktors und der anderen drei Blöcke. Die meisten Beschäftigten des Kernkraftwerks leben in der Stadt Slawutitsch. Rund 50 Kilometer von Tschernobyl entfernt. Für die relativ hohen Gehälter nehmen sie in Kauf, dass sie auf verstrahltem Territorium leben und regelmäßig zur Schicht in die Sperrzone fahren müssen.

Milch immer noch verstrahlt

Die Ukrainer haben sich an das Leben mit der Radioaktivität gewöhnt. Viele haben verdrängt, dass noch immer gefährliche Strahlung, vor allem Cäsium-137, in Lebensmitteln steckt. Greenpeace versucht mit einer aktuellen Untersuchung die ukrainische Öffentlichkeit wieder wachzurütteln. Greenpeace hatte Lebensmittelproben von Dörfern außerhalb der 30 Kilometer-Zone genommen und festgestellt, dass dabei die zulässigen Grenzwerte deutlich überschritten wurden. Eine Probe getrockneter Pilze aus dem Dorf Naroditschi (Gebiet Schitomir) ergab das 115fache über der zulässigen Norm. Im Gebiet Rowno im Dorf Drosdin erreichte eine Milchprobe das 16fache des für Kinder zulässigen Grenzwerts. Greenpeace fordert wegen der Untersuchungsergebnisse, dass die Regierung wieder regelmäßige Messungen von Lebensmitteln durchführt und die Bevölkerung informiert.

Anstatt die eigene Bevölkerung vor der latenten Gefahr zu schützen, pokert die Ukraine lieber mit dem Westen, um möglichst viel Geld für den Unterhalt des Reaktorstandorts zu bekommen. Ukrainische Experten schätzen, dass die Sicherungsmaßnahmen dort noch 30 bis 50 Jahre andauern werden. Die Gefährdung bleibt noch Jahrzehnte lang bestehen. 100.000 Kubikmeter radioaktiven Materials müssen noch entsorgt werden.


Martina Helmerich lebte von 1992 bis 1997 als Korrespondentin für den Spiegel und dpa in Kiew.