Suche nach Massengräbern bricht in Tschechien Tabus

Suche nach Massengräbern bricht in Tschechien Tabus
Lange hat man in Tschechien geschwiegen über das, was in den Monaten der Anarchie und wilden Vertreibung der Sudetendeutschen nach dem Zweiten Weltkrieg geschah. Zwei tschechische Journalisten suchten jetzt nach Augenzeugen, Tätern und unmarkierten Massengräbern.
08.03.2011
Von Michael Heitmann

Die Ermordung tausender deutscher Zivilisten nach Ende des Zweiten Weltkriegs ist auch nach mehr als 65 Jahren ein Tabuthema in Tschechien. Die Journalisten David Vondracek und Pavel Polak haben Zivilcourage bewiesen und die Vertreibungsverbrechen in Radio und Fernsehen auf die Tagesordnung gesetzt.

"Sag mir, wo die Toten sind"

Mit dem einstündigen Dokumentarfilm "Töten auf Tschechisch" durchbrach Vondracek im Mai 2010 eine Mauer des Schweigens. Seinen neuesten Film hat er in Anlehnung an ein Antikriegslied "Sag mir, wo die Toten sind" genannt. In der Reportage befasst sich Vondracek mit den unmarkierten Massengräbern, von denen es auf dem Gebiet der Tschechischen Republik Dutzende, wenn nicht Hunderte, gibt. "Das ist das größte Tabu der tschechischen Geschichte", sagt der Filmemacher der Nachrichtenagentur dpa.

In den morgendlichen Hauptnachrichten des tschechischen Rundfunks berichtete sein Kollege Pavel Polak (links im Bild) im Januar über eines der Massaker nach Kriegsende. "Ich glaube nicht, dass man das vor zehn Jahren so hätte machen können", sagt Polak. Er hatte erfahren, dass einer der letzten Zeugen des Massakers von Podborany (Podersam), bei dem im Juni 1945 bis zu 70 Menschen starben, in Bayern lebt.

Um dessen Aussage zu verifizieren, sprach der Journalist außerdem mit Einheimischen und studierte Unterlagen einer Kommission, die nach dem Krieg die größten Exzesse untersucht hatte. "Dann kamen die Kommunisten an die Macht und die Arbeit dieser Kommission wurde eingestellt", erzählt Polak. Heimlich wurden die größten Massengräber exhumiert, die Überreste weggebracht und verbrannt. Das geschah vermutlich auch in Podborany. "Man wusste 1947 noch, wo die Gräber sind", sagt Polak.

Die Suche nach den Massengräbern

Nach verschwundenen Massengräbern wie diesem macht sich Vondracek in seiner einstündigen Fernseh-Dokumentation auf die Suche. Nach Angaben der Deutsch-Tschechischen Historikerkommission haben 23.000 bis maximal 40.000 Sudetendeutsche durch die Vertreibung ihr Leben verloren. "Niemand hat bisher gefragt, wo diese Toten eigentlich sind", sagt Vondracek.

Historiker erklärten dem Regisseur, dass von den Opfern vermutlich etwa 3.000 nicht beerdigt, sondern einfach im Wald und auf Feldern verscharrt worden sind. Vondracek (links im Bild) trug daraufhin Zeugnisse und Augenzeugenberichte aus dem Nordwesten Böhmens, dem Adlergebirge, aus Ostrava (Ostrau) und Dobronin (Dobrenz) bei Jihlava (Iglau) zusammen.

Auch in der Hauptstadt Prag soll es Massengräber geben. Vondracek besuchte einen heute in Österreich lebenden Vertriebenen, der nach dem Krieg in einem Kino im Prager Stadtteil Strasnice interniert worden war. Als 16-Jähriger wurde der Mann Zeuge, wie Dutzende ältere Prager Deutsche ermordet wurden. Deren Leichname sollen in einem Bombenkrater nahe des Militärflughafen Kbely verscharrt worden sein.

Nach den Zeiten der Anarchie plagt das schlechte Gewissen

Im ganzen Land wüteten in der Zeit nach dem Krieg selbsternannte Revolutionsgardisten. Nach Jahren der NS-Gewaltherrschaft und Massakern an der Zivilbevölkerung sahen viele Tschechen die Bluttaten an Deutschen als gerechte Vergeltung. Es herrschte Anarchie, denn die Zentralregierung war schwach. "Die Menschen verhielten sich wie Tiere", sagt Vondracek. Nach den Dreharbeiten zu diesem Film ist sich Vondracek mehr denn je sicher: "Der Staat muss die Untersuchung dieser Massengräber garantieren." Es gehe darum, zu beschreiben, was passiert ist, ein Kreuz aufzustellen und sich bei den Menschen zu entschuldigen.

Der Journalist macht sich mit seinen Forderungen nicht überall beliebt. Er hat auch schon Drohbriefe bekommen. "Aber nicht so viele wie früher", sagt Vondracek. Der Filmemacher erhält mittlerweile aber auch Post von Leuten, die das Gewissen plagt. So erfuhr er von einer Frau aus Velvety bei Teplice (Teplitz), die kurz vor ihrem Tod im Alter von 95 Jahren ihrem Sohn den Ort eines Massengrabes beschrieb und ihn bat, dort eine Gedenktafel anzubringen. Und im benachbarten Bilina setzt sich mittlerweile eine Gruppe junger Leute für die Errichtung eines Mahnmals ein. "Das ist sehr positiv", sagt Vondracek.

dpa