Schneider: "Sofortiger Abzug ist nicht zu verantworten"

Schneider: "Sofortiger Abzug ist nicht zu verantworten"
"Nichts ist gut in Afghanistan." Mit dieser Äußerung hat die damalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Margot Käßmann, vor gut einem Jahr eine heftige Debatte über den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan entfacht. Ihr Amtsnachfolger Präses Nikolaus Schneider sagte im Januar, die Debatte sei inzwischen "kundiger" geworden. Im Februar war Schneider einige Tage am Hindukusch, um sich selbst ein Bild von der Situation zu machen. Im Interview mit dem Magazin "welt-sichten" erläutert er, welche Schlüsse er nach der Rückkehr aus Afghanistan gezogen hat.
28.02.2011
Die Fragen stellten Tillmann Elliesen und Bernd Ludermann

Hat Ihr Besuch in Afghanistan ihre Bewertung des Krieges dort verändert?

Schneider: Ja. Zum einen habe ich wahrgenommen, dass der Einsatz der Bundeswehr schon dabei hilft, den Raum zu sichern, in dem zivile Organisationen, ob staatlich oder nichtstaatlich, arbeiten können. Das scheint im Moment doch noch nötig zu sein. Andererseits sind für echte, nachhaltige Sicherheit auf Dauer die Zustimmung und das Vertrauen der Menschen entscheidend. Darin sind sich zivile Regierungsagenturen wie die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) und zivile nichtstaatliche Organisationen, mit denen wir in Afghanistan gesprochen haben, mit der Bundeswehr einig. Außerdem habe ich wahrgenommen, dass im Norden Afghanistans erstaunlich viel ziviler Wiederaufbau stattfindet, zumindest im Gebiet Masar-i-Sharif. Drittens habe ich aber auch den Eindruck gewonnen, dass dies in einer recht labilen Situation, also auf "dünnem Eis" stattfindet. Schwere Rückschläge oder ein Scheitern des Ganzen sind leider auch noch eine reale Möglichkeit.

Nach dem Besuch wollten Sie den Einsatz nicht rechtfertigen, halten ihn aber für ethisch hinnehmbar. Was ist da der Unterschied?

Schneider: Ich stehe zu dem Satz "Krieg soll um Gottes Willen nicht sein". Gleichwohl ist das Böse eine Realität, und es gibt Situationen, in denen man der Gewalt nur mit Gewalt widerstehen kann und durch Unterlassen genauso schuldig wird wie durch Handeln. Ob das in Afghanistan der Fall ist oder auch ein anderes Vorgehen möglich wäre, das traue ich mir nach drei Tagen im Land nicht zu, mit Gewissheit zu beurteilen. Hier ist in gewisser Weise eine ethische Grauzone. Deshalb rechtfertige ich den Einsatz nicht, komme aber zu der Formulierung "hinnehmbar".

Die Friedensdenkschrift der EKD von 2007 nennt Kriterien dafür, was einen Kriegseinsatz ethisch hinnehmbar macht. Zum Beispiel muss das Ziel klar formuliert und der Einsatz darauf ausgerichtet sein. Trifft das auf den Afghanistan-Einsatz zu?

Schneider: Die Ziele haben sich deutlich geändert. Am Anfang ging es darum, Terroristen und Taliban zu vertreiben, und die USA haben gesagt, Staatsaufbau sei nicht ihre Aufgabe. Das hat sich als komplett falsch herausgestellt. Jetzt ist zum ersten Mal ein klares Ziel beschrieben, nämlich dass sich in überschaubarer Zeit eine tragfähige Zivilgesellschaft entwickelt, die nachhaltig Bestand hat, damit der Einsatz der Bundeswehr dort beendet werden kann. Ob das realistisch ist, wird sich bald herausstellen.

Das jüngste Mandat für den Bundeswehreinsatz kann man zugespitzt so verstehen, dass es das wichtigste Ziel der Bundesregierung ist, heil wieder aus dem Land zu kommen. Macht so ein Ziel den Krieg hinnehmbar?

Schneider: Natürlich nicht. Aber Ihre Zuspitzung ist eine Überspitzung. Alle in der Regierung sagen auch, ein Rückzug muss in verantwortlicher Weise erfolgen. Die Bundeswehr darf keinen Scherbenhaufen hinterlassen, sondern soll so gut wie möglich die Voraussetzungen schaffen, dass sich eine zivile Gesellschaft entwickelt. Das geschieht ja auch.

Manche afghanische Stimmen bezweifeln das, und manche Hilfsorganisationen wollen mit dem Militär nichts zu tun haben, weil es ihre Sicherheit nicht erhöhe.

Schneider: Manche NGOs, etwa die Christoffel-Blindenmission, arbeiten seit vierzig Jahren in Afghanistan. Offenbar geht das – auch ohne militärischen Schutz durch westliche Truppen. Es kommt wohl auch auf die Art der Projekte an. Wer Augenheilkunde betreibt, erfreut sich bei der Bevölkerung natürlich großer Beliebtheit – das leuchtet ein. Dagegen können auch die Taliban schwer etwas einwenden und lassen deswegen die Christoffel-Blindenmission. Aber der Aufbau einer Zivilgesellschaft benötigt mehr als Augenheilkunde, und es ist unser Eindruck, dass die NGOs in Afghanistan den Bundeswehreinsatz unterschiedlich beurteilen. Eins ist allen klar: Die Bundeswehr ist kein ziviles Aufbauteam. Die Aufgaben zwischen zivilen Organisationen und der Bundeswehr müssen deutlich getrennt werden.

Der ISAF-Einsatz in Afghanistan hat aber die Sicherheitslage nicht verbessert.

Schneider: Zuletzt scheint die Sicherheitslage wieder besser geworden zu sein. Aber wir müssen nüchtern zur Kenntnis nehmen, dass sie über einen längeren Zeitraum seit 2006 schlechter geworden ist. Hier wird man am Ende des Jahres sehr genau bilanzieren müssen – das wissen auch unsere Politiker.

Was spricht gegen einen sofortigen Abzug der Bundeswehr?

Schneider: Der ist nicht zu verantworten. Zwar habe ich die Entscheidung, Soldaten nach Afghanistan zu entsenden, von Anfang an für falsch gehalten, aber jetzt sind wir da, und daraus erwächst neue Verantwortung. Das Ziel muss jetzt sein, dass die zivile Hilfe im Vordergrund steht.

Kann man den Bundeswehreinsatz vom Nato-Einsatz trennen, in dem die USA den Ton angeben? Die Eskalation des Krieges gegen die Taliban im Süden des Landes ist laut dem Friedensbeauftragten der EKD, Renke Brahms, mit den Prüfkriterien der Denkschrift schwer vereinbar.

Schneider: Die internationale Stabilisierungstruppe ISAF und die Anti-Terror-Operationen der USA sind zwei verschiedene Dinge, auch wenn die Unterscheidung in der Praxis vielleicht nicht immer deutlich ist und auch nicht immer gelingt. Doch die Bundeswehr tritt sehr zurückhaltend auf. Die Verantwortlichen wissen: Wir sind nicht dann erfolgreich, wenn wir möglichst viele Taliban besiegen, sondern wenn wir dabei helfen, den Aufbau einer Zivilgesellschaft in Afghanistan zu ermöglichen. Die Bundeswehr hat das im Gegensatz zu den USA immer schon stärker so gesehen. Ich halte das für das erfolgversprechendere Konzept.

Ist der Fall Afghanistan ein Anlass für die EKD, die Prüfkriterien für Militäreinsätze in ihrer Denkschrift zu überdenken?

Schneider: Wir müssen in der Tat durchbuchstabieren, wieweit sich die Denkschrift in der Anwendung bewährt. Wir prüfen in der EKD, was Afghanistan für unsere friedensethische Position bedeutet. Ein Beispiel: Das Militär sagt, seine neue Strategie sei erfolgversprechender als die alte. Sie enthält aber offensive Elemente. Das ist friedensethisch ein Problem für uns, denn die Friedensethik beruht auf dem Gedanken der Verteidigung und nicht des Angriffs.

Müsste die Kirche zu diesen offensiven Elementen nicht klar "Stopp" sagen, statt sie in ihre Friedensethik einzubauen und sich so von der Politik vor sich her treiben zu lassen?

Schneider: Die Politik treibt uns nicht vor sich her, sondern wir beobachten alles sehr genau und müssen das in Beziehung setzen zu dem, was wir vor dem Evangelium und unserem Gewissen verantworten können. Es geht darum, dass die Wirklichkeit sich der Vorgabe "Krieg soll um Gottes Willen nicht sein" annähern muss – unter den Bedingungen dieser "noch nicht erlösten Welt", wie es schon in der Barmer Theologischen Erklärung heißt.

Gegen den Ansatz gibt es Vorbehalte im Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK), wo für die Friedenskonvokation in Jamaika im Mai eine Erklärung zum gerechten Frieden erarbeitet wird.

Schneider: Ich bin froh, dass es Christinnen und Christen gibt, die friedensethische Positionen deutlich formulieren. Aber Kirchen müssen auch zur politischen Urteilsbildung beitragen. Die Friedensdenkschrift der EKD ist näher am Umsetzungsprozess, während nach meiner Wahrnehmung der ÖRK näher bei den Grundsätzen ist. Ich habe hohe Achtung vor dieser Position, weil sie mit ihren Grundsätzen ein Stachel für uns ist, den wir brauchen. Aber es gibt auch Formen ethischer Positionsbildung, bei denen es vor allem darum geht, dass man selbst im theoretischen Raum Recht behält. Und die helfen praktisch nicht immer weiter.


Das Interview ist mit freundlicher Genehmigung der März-Ausgabe des ökumenischen Magazins "welt-sichten" entnommen.