TV-Tipp des Tages: "Tatort: Nie wieder frei sein" (ARD)

TV-Tipp des Tages: "Tatort: Nie wieder frei sein" (ARD)
Ein herausragender "Tatort" aus München: Ein Vergewaltiger wird wegen Ermittlungsfehlern freigesprochen. Sein Opfer verschwindet, und zwei Kommissare gehen an die Grenzen des Legalen.
17.12.2010
Von Tilmann P. Gangloff

"Tatort: Nie wieder frei sein", Sonntag, 19.12., 20.15 Uhr im Ersten

"Dieser Film beginnt, wo andere enden": Der Satz ist typisch für Beziehungsdramen, bei denen das Happy End nicht am Ende steht, sondern den Anfang bildet. Für diesen ausgezeichneten "Tatort" aus München aber gilt das gleiche. Der Täter ist gefasst und überführt, die Indizien sind erdrückend, außerdem gibt es eine Zeugin: Ein Mann hat eine junge Frau entführt, mit Stichen verletzt, vergewaltigt und dann als vermeintliche Leiche wie Müll entsorgt. Später hat er seine Taten bei einer Prostituierten beschrieben; eine andere Frau hatte zuvor das gleiche durchmachen müssen, aber nicht überlebt.

Doch der Prozess endet mit einem sensationellen Freispruch: Die junge Pflichtverteidigerin kann den Ordnungshütern Formfehler nachweisen und zerpflückt die Strategie der Staatsanwaltschaft wie ein Kartenhaus; die Zeugin ist in ihrer georgischen Heimat untergetaucht.

Recht vs. Gerechtigkeit

Von Anfang an lässt das Drehbuch (Dinah Marte Golch) keinen Zweifel daran, dass Markus Rapp (Shenja Lacher) die Tat begangen hat. Doch die Ermittler hatten ihn ohne richterliche Genehmigung belauscht, die entsprechenden Erkenntnisse sind somit vor Gericht wertlos; Recht und Gerechtigkeit sind halt nicht immer identisch. Die ohnehin traumatisierte junge Melanie (Anna Maria Sturm) versteht die Welt nicht mehr, ihre Eltern sind entsetzt.

Schon die ersten bedrückenden Bilder des Films, als sich der Vergewaltiger in einer quälend langen Einstellung seines Opfers entledigt, sorgen für eine hohe Emotionalität, die der von Christian Zübert enorm dicht inszenierte Film noch intensivieren wird. Vom mutmaßlichen Täter abgesehen verhält sich keiner der Beteiligten rational. Der Freund der Frau lässt seine Wut an der Verteidigerin aus, die krankenhausreif geprügelt wird. Auch Hauptkommissar Ivo Batic (Miroslav Nemec) verliert die Contenance: Als Rapps Opfer verschwindet und ihre verwüstete Wohnung auf ein weiteres Gewaltverbrechen schließen lässt, will er die Wahrheit aus dem Mann herausprügeln. Sein Kollege Leitmayr (Udo Wachtveitl) verhält sich zwar besonnener, aber auch ihn erschüttern die Ereignisse.

Folterszenen

Die Szenen mit dem jähzornigen Batic, dessen Methoden man Folter nennen kann, sind durchaus ungewöhnlich für einen "Tatort". Die Kommissare mögen es mitunter mit dem Gesetz nicht so genau nehmen, wenn sie mal ein Auge zudrücken, aber derart offen hat sich eigentlich nur Schimanski seine gesetzlichen Grauzonen geschaffen. Andererseits sorgen die Bilder dafür, dass die Intensität des Films nicht einen Moment nachlässt: Jetzt suchen die Münchener Kommissare nicht bloß den verschwundenen Rapp, sondern auch die vermutlich in Lebensgefahr schwebende Melanie. Gegenentwurf zu der jungen Frau ist die vermeintlich kühle Verteidigerin (Lisa Wagner), die Zübert zunächst als betont gefühllose Karrieristin inszeniert. Objektiv betrachtet tut er ihr und ihrem Berufsstand natürlich unrecht, schließlich haben auch Verbrecher den Anspruch auf bestmögliche Verteidigung; zumal bis zum Urteilsspruch die Unschuldsvermutung zu gelten hat. Als auch noch der mutmaßliche Mörder erstochen wird, gibt es eine Vielzahl potenzieller Täter, die aus ihrem Hass keinen Hehl machen.

Gerade die ersten Bilder wie auch die unverblümte drastische Wortwahl während des Prozesses lassen den ausgezeichneten Film aus Jugendschutzperspektive allerdings mindestens grenzwertig erscheinen. Und das Ende der emotional so plausiblen Geschichte wirkt etwas konstruiert. Davon abgesehen: ein herausragender "Tatort".

 


Der Autor unserer TV-Tipps, Tilmann P. Gangloff, setzt sich seit über 20 Jahren als freiberuflicher Medienkritiker unter anderem für "epd medien" und verschiedene Tageszeitungen mit dem Fernsehen auseinander. Gangloff (geb. 1959) ist Diplom-Journalist, Rheinländer, Vater von drei Kindern und lebt am Bodensee. Er gehört seit Beginn der 1990er Jahre regelmäßig der Jury für den Adolf-Grimme-Preis an und ist ständiges Mitglied der Jury Kinderprogramme beim Robert-Geisendörfer-Preis, dem Medienpreis der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).