Shanghais Stärke in Pisa-Studie ist seine Schwäche

Shanghais Stärke in Pisa-Studie ist seine Schwäche
Chinas Schüler sind Weltmeister in Prüfungen. Ihr tolles Abschneiden in der Pisa-Studie weckt weltweit Neid und Bewunderung. Doch hinter dem Erfolg verbirgt sich ein Problem: Chinas Kinder können zwar gut auswendig lernen, doch ihre Kreativität und Fantasie verkümmern.
15.12.2010
Von Andreas Landwehr

Die Schüler in Shanghai stehen in der neuen Pisa-Studie auf dem Spitzenplatz. Zum ersten Mal wurden die Schüler in der ostchinesischen Hafenmetropole mitgetestet - und ihre herausragenden Ergebnisse in Mathematik, Naturwissenschaften sowie beim Lesen und Verstehen von Texten lassen Lehrer und Politiker in Deutschland und anderswo vor Neid staunen. Der Erfolg hat aber einen hohen Preis: Der harte Schulalltag raubt Chinas Schülern nicht nur die Kindheit, sondern auch den Einfallsreichtum. So zeigt das gute Abschneiden der Kinder in Shanghai nebenbei auch, wie wenig die Pisa-Studie manchmal über die Qualität eines Bildungssystems aussagt.

Büffeln statt spielen

Xiao Fang ist so ein typisches Shanghaier Schulkind. Die Achtjährige geht in die dritte Klasse. "Von morgens bis abends nur Schule", sagt ihre Großmutter. "Der Druck ist riesig. Kein bisschen Zeit zum Spielen." Ihr normaler Schultag mit Unterricht und Hausaufgaben dauert meist bis abends 21 Uhr. Dann geht sie ins Bett. Am Wochenende lernt die Achtjährige noch Englisch. Ihre Eltern sind gebildet, haben ein hohes Einkommen. Damit ihre Tochter eines Tages eine ähnlich gute Arbeit bekommt, muss sie heute viel lernen.

Ohne gute Testergebnisse kommt Xiao Fang nicht in eine gute Mittelschule. Ohne eine hohe Punktzahl in der Prüfung der 5. Klasse bleiben ihr bessere Oberschulen verschlossen. Zuletzt entscheidet der "Gaokao", die Aufnahmeprüfung, ob sie auf eine gute Hochschule kommt, die wiederum ihre Chancen am Arbeitsmarkt bestimmt. Die Eltern sorgen deswegen heute schon dafür, dass die Achtjährige büffelt wie verrückt. Nirgendwo lernen Kinder so intensiv vor Prüfungen wie in China - nirgendwo können sie besser auswendig lernen. Kein Wunder also, dass sie bei der Pisa-Studie gut abschneiden.

Mangel an sozialen und praktischen Fähigkeiten

Von Erfolg möchte Jiang Xueqin, Vizeschuldirektor der Oberschule der renommierten Pekinger Universität, aber nicht sprechen. Er sieht vielmehr ein "Zeichen der Schwäche" und das "Symptom des Problems". "Es sind zwei Seiten derselben Medaille: Chinesische Schulen sind sehr gut darin, ihre Schüler auf standardisierte Tests einzustellen. Aus diesem Grund scheitern sie daran, sie auf eine höhere Bildung und eine wissensorientierte Wirtschaft vorzubereiten", argumentiert Jiang Xueqin in einem Beitrag im "Wall Street Journal". Die Folgen von starrem Auswendiglernen seien bekannt: Ein Mangel an sozialen und praktischen Fähigkeiten, fehlende Fantasie und Neugier.

"Multinationale wie chinesische Unternehmen haben die gleichen Klagen über Chinas Universitätsabsolventen: Sie können nicht unabhängig arbeiten, ihnen fehlt soziales Geschick, um im Team zu arbeiten, und sie sind zu arrogant, neues Können zu erlernen", bemängelt Jiang Xueqin. Notwendig sei die Fähigkeit, Probleme zu identifizieren, in Einzelteile zu zerlegen, aus verschiedenen Blickwinkeln zu analysieren und eine Lösung zu finden, die auch über kulturelle Grenzen hinweg vermittelt werden könne. "Diese Fähigkeit zu "kritischem Denken" müssen chinesische Studenten lernen, wenn sie global wettbewerbsfähig werden wollen."

"Die Neugier der jungen Geister wird erstickt"

Der amerikanische Ökonomie-Professor Michael Pettis, der an der Management-Schule der Peking-Universität unterrichtet, findet, dass Schülern im chinesischen Bildungssystem frühzeitig die Kreativität ausgetrieben wird. "Meine chinesischen Studenten können logische mathematische Rätsel allgemein leichter lösen als amerikanische und europäische Studenten", sagt Pettis. "Auf der anderen Seite muss ich kämpfen, sie dazu zu bringen, in den Wirtschaftswissenschaften über die unterrichteten Modelle hinauszugehen - was Amerikanern viel leichter fällt und etwas weniger auch europäischen Studenten."

In einer Studie in 21 Ländern, die im November in China für Aufsehen sorgte, waren chinesische Schüler mit ihrer Fantasie das Schlusslicht. In Kreativität kamen sie nur auf den fünftletzten Platz "Die Ergebnisse sind schockierend", mahnte die "China Daily" zum Umdenken. Die Kinder hätten kaum die Chance, ihre Vorstellungskraft zu nutzen. "Direkt vom ersten Schultag werden sie in eine Kultur von Prüfungen und noch mal Prüfungen gedrängt." Um zu bestehen, müssten sie nur Standard-Antworten auswendig lernen. "Lehrer trauen sich nicht, die Schüler zu ermutigen, mit ihren Gedanken aus dem Rahmen zu fallen", bemängelte das Blatt. "Lehrer mögen keine Schüler, die sie infrage stellen, und ersticken die Neugier der jungen Geister."

dpa